Rabenmond - Der magische Bund
Gesicht färbte sich rot. Er richtete sich zu voller Größe auf, wobei er Mion kaum überragte. »Ich bin achtzehn!«
Das hätte sie nicht gedacht. Er wirkte höchstens wie sechzehn. Sehr schmächtige sechzehn. Sanftmütig meinte Mion: »Für die große Liebe ist das doch ein bisschen früh.«
»Liebe wartet auf kein Alter. Und wieso sollte sie auch? Faunia ist in der Blüte ihrer Schönheit.«
Mion entschied, darauf nichts zu antworten, und trank.
»Überhaupt, ich frage mich, wieso euer Meister zwei Schülerinnen braucht«, sagte Atlas nachdenklich. »Sie ist doch nicht... krank?«
Mion schüttelte den Kopf. »Sie erfreut sich bester Gesundheit.«
»Ein komischer Kerl, euer Meister«, murmelte er. »Der Einzige, der es gewagt hat, einen Lehrling zu adoptieren, und dann macht er es gleich zweimal.«
»Vielleicht hat er als Einziger den Mut zur Gerechtigkeit«, erwiderte Mion mit leisem Stolz. Atlas sah sie überrascht an.
»Bei allen Drachen, du klingst ja wie Faunia.«
Mion kniff die Lippen zusammen. »Du kennst sie doch überhaupt nicht.«
»Was? Ich -«
»Jemandem auf Banketten nachstellen ist was anderes, als ihn zu kennen, Atlas.« Jetzt musste sie doch wieder lächeln. »Ach, komm. Wenn Faunia nicht so eine Giftschlange wäre, würde ich sie dir von Herzen wünschen.«
»Giftschlange!«
Sie nickte. Atlas beruhigte sich und dachte nach. »Aber sie ist wunderschön...«
Mion verdrehte die Augen. Trotzdem verbrachte sie den Rest des Abends mit dem Schneider und fühlte sich in seiner Gegenwart so wohl wie lange bei keinem mehr. Er war witzig und scharfsinnig, hatte zu allem etwas zu sagen und neigte zu einer Art von Besserwisserei, die Mion schmunzeln ließ, aber nicht störte. Er konnte sie sogar zum Tanzen überreden, obwohl Jagu ihr das nicht beigebracht hatte. Ehe sie sichs versah, wirbelten sie über die Tanzfläche, und Atlas schnatterte fröhlich über sich und die Welt.
Mion musste plötzlich an Saffa und Kajan denken. Das letzte Mal, dass sie getanzt hatte, war auf den Laternenfesten zur Wintersonnenwende gewesen. Sie hatte Saffa und Kajan stundenlang überreden müssen, und als sie endlich mit ihr tanzten, hatten sie sich immer wieder gegenseitig weggeschubst und ein Bein gestellt. Was war das für ein Leben gewesen. Mit anderen Menschen und einem anderen Wynter, ja sie selbst war eine andere gewesen. Hatte sie wirklich auf der Straße gesungen, in den Schatten der Ruinen verdünnten Wein getrunken, Ritus gespielt... Ritus …
Eine Hand legte sich auf Atlas’ Schulter. Jagu stand vor ihnen. Mion fühlte sich ertappt, obwohl es ja keinen Grund dazu gab. Atlas strich sich das Wams zurecht. »Meister Jagu!«
»Hallo, Atlas. Darf ich?« Mit einem Lächeln nahm er Mions Hand, legte einen Arm um ihre Seite und tanzte mit ihr davon. Dabei fiel etwas von seiner Schulter. Verwundert blickte Mion einer kleinen braunen Feder nach, die in der Menge davonschwebte.
»Wo warst du?«
»Hattest du Spaß?«
Sie legte den Kopf schief. »Ich denke, ich habe die heutige Aufgabe ganz gut gemeistert.« Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke wie ein jäher Blitz: Eigentlich wäre ich jetzt tot.
Die Mion, die vor fast vier Monaten in den Ruinen getanzt hatte, war gestorben. Wer war bloß das Mädchen in den teuren Kleidern auf diesem himmlischen Fest, Hand in Hand mit dem größten Maler von Wynter?
»Danke«, sagte sie leise zu Jagu, und weil sie ihn jetzt unmöglich ansehen konnte, legte sie den Kopf an seine Brust. »Danke für alles.«
Große Augenpaare folgten ihnen, und alle Umstehenden schienen über sie zu tuscheln, doch das Orchester überspielte die Worte, und sie drehten sich schnell, viel zu schnell, bis alles in einem angenehmen Rausch aus Licht und Farbe verschwamm.
Spät nachts löste sich das Fest auf. Unter den Aufbrechenden fand Mion Atlas wieder, und sie versprachen sich, einander zu besuchen - »Staatsgeheimnisse austauschen«, wie er meinte -, dann stieg Mion zu Jagu in den Wagen, und der Fuhrjunge zog sie in die stille, friedliche Frühlingsnacht. Mion sah zurück, wo das große Theaterhaus hinter der Straßenecke verschwand.
»Ich weiß, dass es früher deinem Vater gehört hat.«
Im Dunkel sahen sie sich an. Das Licht vorbeiziehender Hauslaternen glitt für Sekunden über Jagus Gesicht und verwandelte es in eine ausdruckslose Maske.
»Osiril hat mir alles erzählt. Dass er dich verleugnet und deine Mutter euch verlassen hat... und dass du in Wirklichkeit Arahil heißt.«
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