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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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sah.
    Missmutig blieb sie am Rand des Pavillons stehen und blickte in die Nacht hinaus. Der Palast funkelte aus tausend weißen Fenstern, und die Gärten waren von bunten Laternen durchsetzt, wie verstreute Edelsteine auf Samt. Der Mond wirkte dagegen geradezu unscheinbar.
    Mion betrachtete den Palast und die Lichter und dachte daran, dass Jagu ihr all das versprochen hatte. Er musste größenwahnsinnig sein.
    Sie trank ihren Wein und schlenderte die Treppen hinab. Was wäre wohl, wenn sie einfach auf den Palast zulaufen würde und schnurstracks hineinging? Sie musste lächeln. Davor würde sie wahrscheinlich ein paar Sphinxe beseitigen müssen. Nach dem Kampf gegen Faunia war sie wenigstens abgehärtet.
    Sie kippte den Rest des Weins hinunter und ließ den Kelch ins Gras kullern. Aus der Dunkelheit glitzerten ihr die trägen Wellen des Flusses entgegen. Mion schritt unter den Weiden hindurch, die das Ufer säumten. Im Laternenschein der Barken hockten die Fährmänner und beobachteten den Pavillon aus der Ferne.
    Jeder bewundert, was gerade außerhalb seiner Reichweite liegt, dachte Mion. Als müsste man immer zu etwas aufsehen, von dem man weiß, dass es nie zu erreichen ist.
    Auch sie blickte zum Pavillon hinüber und verschränkte die Arme. Wie lange es wohl dauern würde, bis Jagu auffiel, dass sie verschwunden war? Hoffentlich erschreckte er sich schön - das würde ihn daran erinnern, wie wichtig sie für ihn war.
    Der Wind brauste durch die Weiden und kitzelte Mion im Nacken. Irgendwo erscholl Musik. Erst dachte sie, es müsse vom Pavillon kommen, aber die Töne waren schief.
    Sie ging ein paar Schritte am Ufer entlang. Im blassen Leuchten, das durch die Zweige fiel, entdeckte sie jemanden auf einem niedrigen Ast, der die Füße über dem Wasser baumeln ließ und Flöte spielte.
    Wobei spielen nicht ganz zutraf. Eher nötigte er dem Instrument Töne ab, die arg nach einem leidenden Tier klangen. Immer wieder hielt er inne und betrachtete die Flöte, als sei alles ihre Schuld. Schließlich seufzte er tief und wog sie in der Hand, offenbar kurz davor, sie in den Fluss zu werfen.
    Mion beschloss, sich nicht länger im Verborgenen zu halten. Als sie ans Ufer trat, fuhr er auf und wäre um ein Haar ins Wasser gefallen.
    »Vielleicht keine schlechte Idee«, sagte sie lächelnd. »Die Flöte in den Fluss werfen, meine ich.«
    Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, doch sie spürte, dass er sie anstarrte. Womöglich war sie zu unhöflich gewesen.
    »Bei wem seid Ihr Lehrling?«, lenkte sie taktvoll ab.
    Er gab keine Antwort. Dann kletterte er den Ast zurück auf festen Boden.
    »Geh nicht«, sagte er leise, obwohl sie sich keinen Zentimeter gerührt hatte. Etwas an der Art, wie er dastand, kam Mion merkwürdig vertraut vor.
    »Komm ins Licht«, sagte er stockend und ging rückwärts vom Ufer weg, dorthin, wo die Weiden nicht den Laternenschein schluckten. Mion versuchte, eine amüsierte Miene aufzusetzen, und folgte dem Fremden zögernd auf die Wiese.
    »Kennen wir uns? Gehört habe ich dich bestimmt noch nicht, daran würde ich mich erinn...« Sie trat ins Licht und sah nun endlich auch sein Gesicht.
    Für eine Sekunde erkannte sie ihn, ohne zu wissen, woher. Dann kam es wie ein Blitz - das schmale, fuchshafte Gesicht im Schnee, die geraden Brauen mit den schrägen Augen darunter, die sich öffneten, öffneten und leuchteten wie Honig, drei Punkte gleich Blutstropfen in der linken Iris -
    Und der Schreck in diesen Augen. Derselbe Schreck wie jetzt.
    Zitternd holte er Luft. »Du!«
    Sie konnte nichts sagen. Dann riss sie den Blick von ihm los und eilte Richtung Pavillon. Ihre Füße gehorchten ihr nicht mehr. Sie begann zu rennen.
    »Warte!«
    Eine Schwalbe schoss an ihr vorbei und landete flatternd im Gras, wo sich einen Augenblick später der Junge aufrichtete. Der Schrei blieb ihr im Hals stecken, presste ihr aufs Herz. Sofort fiel sie auf die Knie. »Euer Hoheit...«
    »Du bist es, das Mädchen aus dem Wald!«
    »Ihr verwechselt mich, Hoheit«, hauchte Mion. Ihr gesamtes Gewicht schien sich aus ihrem Körper in den Kopf zu bewegen. Hitze pulste durch die Schläfen.
    »Sieh mich an.«
    Widerwillig hob sie den Blick. Die goldenen Augen ruhten auf ihren, suchend, erkennend. Er erkennt mich. Er erkennt mich. Fort waren die vergangenen Monate, fort war das neue Leben, das sie schon für selbstverständlich gehalten hatte. Sie war wieder das Ruinenmädchen, das dem Tod gegenüberstand. Ja, sie war nie etwas anderes

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