Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
wollte. Das Schlimme an diesem Verdacht war, dass er sich gegen Ulissa selbst wendete. Die Vorstellung, dass Onkel Edon ihr Vater sein könnte, hat sie von innen her zerfressen. Wir alle haben immer wieder versucht, Ulissa vom Gegenteil zu überzeugen. Sogar Anbar hat es versucht, aber da war es schon zu spät. Für Ulissa war Edon ein Verbrecher, der Alptraum von Lian Reling. Ein Alptraum, der anschwoll, der dicker und dicker wurde, bis er schließlich Ulissa ausspuckte und unsere Mutter tötete. So hat es sich in Ulissas Kopf abgespielt, stell dir diesen Horror vor. Anbar hat ihr das Drehbuch dazu geliefert. So viel zu dem Thema, ob ich Anbar für unfehlbar halte.“
„Er hat ausgesprochen, was er befürchtet hat. Edon ist auch auf mich losgegangen.“
„Das wundert mich nicht und es beweist gar nichts“, sagte Amandis. „Du hast ausgesehen wie Ulissa. Du bist eine Kopie von ihr. Zwischen ihm und Ulissa herrschte Krieg. Ich hab dir erzählt, dass sie ihn mal vergiftet hat und eiskalt hätte sterben lassen. Natürlich war er danach stinksauer. Wenn er also über dich herfallen und dich quälen wollte, dann hat das auch damit zu tun gehabt, dass er sich eigentlich an ihr rächen wollte. Ich will ihn nicht in Schutz nehmen, ich meine nur, dass Onkel Edon vielleicht kein Teufel gewesen ist, auch wenn Anbar und Ulissa es so hinstellen. Ich selbst habe keine einzige schlechte Erfahrung mit ihm gemacht. Onkel Edon war lustig. Die Frauen fanden ihn toll. Ich habe es mehr als einmal gehört, wie sie mit Sistra über ihn gesprochen haben. Er sei so männlich und markant, so draufgängerisch und animalisch! Ich war damals zwölf und hab das Wort ‚animalisch’ extra im Lexikon nachgeschlagen. Zu mir und Sistra war er immer nett und charmant. Er hat sich nie komisch verhalten. Mein Misstrauen habe ich aus zweiter Hand. Anbar hat mich bestimmt nicht angelogen, Ulissa wahrscheinlich auch nicht. Demnach konnte Edon sehr widerwärtige Dinge sagen. Ich werde dir nicht wiederholen, was er gesagt hat, denn solche Wörter nehme ich nicht in den Mund. Ulissa und Anbar hatten immer viel Einfluss auf mich, deswegen war ich auf ihrer Seite. Heute halte ich es für möglich, dass Onkel Edon meine Mutter nie gegen ihren Willen bedrängt hat. Wenn doch, dann hat er vielleicht trotzdem gewisse Grenzen eingehalten. Schwarze Haare kommen in beiden Familien vor, auch in der Familie meiner Mutter. Es ist nun mal nicht einfach, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Die Menschen haben beides in sich.“
Elsa schaute Amandis an, zumindest in deren Richtung, aber eigentlich schaute sie nirgendwohin, da sie über das Gehörte nachdachte und versuchte, sich daran zu gewöhnen. Ihr ging die Frage nicht aus dem Kopf, die Amandis gestellt hatte: Wenn Ulissa Edons Tochter gewesen war, was war dann mit Elsa? Wenn Menschen Erbanlagen hatten, die ihr Aussehen bestimmten, was hatten dann Raben, die doch auch aus Fleisch und Blut bestanden? Es spielte wahrscheinlich nicht die geringste Rolle, ob Elsa mit Edon Weiss verwandt war oder nicht. Doch die Vorstellung, dass sie es sein könnte, war ihr zuwider.
„Also werde ich Anbar dieses kostbare Ding hier geben“, sagte Amandis und öffnete die Faust, in der der Stein gelegen hatte, „und ihm ausrichten, dass du dabei bist, dein Versprechen zu brechen. Richtig? Weil dir angeblich keine andere Wahl bleibt. Hast du eigentlich vor, uns alle umzubringen?“
Vom Treppenhaus her war ein Geräusch zu hören. Sie schauten beide zur Tür.
„Das wird Romer sein“, sagte Elsa.
„Ich hab dir eine Frage gestellt!“
Elsa stand auf.
„Wie könnte ich euch umbringen wollen“, sagte sie, „ihr seid doch alles, was ich habe. Aber du hast es vorhin richtig ausgedrückt: Gerade geht nichts so aus, wie es soll. Schon gar nicht für mich.“
Sie ging aus dem Zimmer, doch Amandis folgte i hr .
„Warte, Elsa!“
Als Elsa sich umdrehte, hielt ihr Amandis die Hand hin. Der Aeiol auf ihrer Handfläche leuchtete.
„Behalte ihn“, sagte Amandis. „Ich kann deine Nachricht auch so überbringen.“
Elsa zögerte, doch Amandis drückte ihr den Stein einfach in die Hand und schloss Elsas Finger darum.
„So!“, sagte Amandis.
Elsa brachte es nicht fertig, die Hand zu öffnen oder zu widersprechen. Sie nickte nur, wandte sich ab und setzte ihren Weg fort.
Auf der Treppe kam ihr Romer entgegen. Durchwachte Nächte, Sorgen und Trauer und fehlende Gelegenheiten, sich umzuziehen, zu waschen oder zu rasieren,
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