Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
erschrocken, als sie erkannte, wie hoch die Sonne schon am Himmel stand.
„Ja, er ist da. Mora und Sistra auch. Sie reden gerade über eure Flucht. Er ist nicht so schrecklich, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Wir haben uns über Ulissa unterhalten. Er kannte sie sehr gut.“
Amandis sah weder müde noch niedergeschlagen aus. Als hätte sie wunderbar geschlafen und Stunden Zeit gehabt, sich dieses kostümartige, eng anliegende Kleid anzuziehen, ihre goldenen Locken zu flechten und zu einem eleganten Haarknoten hochzustecken, aus dem Fenster zu schauen und schöne Tagträume zu haben und ihren Gästen dann das vollkommene Frühstück zu servieren. Wie könnte es Nikodemia da wagen, kein Taschentuch zu benutzen? Bestimmt hatte er sich zusammengerissen und den gleichen höflichen Ton angeschlagen wie bei Nelli.
„Hast du gut geschlafen?“, fragte Amandis.
„Zu gut, glaube ich. Es muss schon spät sein.“
„Fast Mittag. Aber das macht nichts. Die anderen meinten, ich solle dich schlafen lassen. Ich habe dir hier Kleidung hingelegt und auch zwei Mäntel. Such dir aus, was dir am besten gefällt oder passt.“
„Das ist sehr nett von dir.“
„Ach was, das ist nichts.“
Elsa hielt immer noch den Stein in ihrer Hand. Als es ihr bewusst wurde, steckte sie ihn schnell in ihr Kleid. Amandis war die plötzliche Bewegung nicht entgangen. Sie schaute Elsa neugierig an, zögerte und wandte sich dann dem Tablett zu.
„Willst du Nokkakau oder Tee? Ich wusste nicht, was du lieber hast, deswegen habe ich dir beides gebracht.“
Sie zeigte auf zwei Kannen.
„Ist mir gleich.“
„Nokkakau also. Der schmeckt nirgendwo so gut wie hier in Sommerhalt. Glaub mir, ich habe Nokkakau in Zenzo getrunken und in ein paar anderen Welten, die das Rezept geklaut haben, aber nur hier wachsen die richtigen Bohnen dafür.“
Sie goss die dunkelbraune Flüssigkeit in eine zierliche Tasse und reichte sie Elsa, die höflich daran nippte. Sie hatte die Tasse schon wieder abgesetzt, als sie merkte, wie überwältigend der Nokkakau schmeckte. Noch besser als früher.
„Es tut mir leid, dass ich gestern so schlecht über Niko gesprochen habe“, sagte Amandis. „Das war nicht richtig. Ihr werdet bestimmt glücklich. Er hat so etwas Verwegenes.“
„Kennst du Berth Ritter?“
„Ja, warum?“
„Dem hat Niko gestern einen Birrakrug ins Gesicht geschlagen.“
„Dafür hatte er hoffentlich einen Grund?“, fragte Amandis.
„Berth wollte mich erpressen. Niko hat mich gerettet.“
„Oh!“, rief Amandis aus. „Das ist romantisch! Für mich hat sich noch nie ein Mann geprügelt.“
„Es war keine Prügelei. Er hat nur seine Pflicht getan. Man kann ja einen Raben, mit dem man mal verheiratet war, nicht hängen lassen. Es ist nett von ihm, dass er so denkt, aber das hat nichts mit Romantik zu tun.“
Amandis machte immer noch große Augen.
„Ich dachte, Ulissa hätte ihn nur benutzt, aber vielleicht fand sie ihn ja tatsächlich toll? Kommst du nach unten, wenn du fertig bist? Und erschrick nicht zu sehr über Morawena.“
„Warum sollte ich?“
„Diese kleinen Tiere, die sie gebissen haben … man sieht die Bisswunden, aber Segerte meinte, es heilt aus mit der Zeit.“
Elsa sah zu, wie Amandis sie verließ. Auf einmal fürchtete sie sich davor, mit Morawena und Sistra in einem Raum zu sein. Beide hatten etwas Furcht einflößendes. Um sich abzulenken, untersuchte Elsa die Berge von Kleidung, die Amandis über allen Sitzmöbeln verteilt hatte. Es waren erstaunlich praktische Dinge dabei, zum Beispiel eine leichte Tasche zum Umschnallen und eine Hose. Elsa konnte sich nicht vorstellen, dass Amandis jemals Hosen trug, aber diese Hose, die einer jener Wanderhosen ähnelte, die es in Kristjanstadt im Kaufhaus zu kaufen gab, hatte eindeutig Amandis’ Größe. Es gab auch ein praktisches Reisekleid mit vielen Taschen und eine Strickjacke, die Elsa anprobierte, weil sie istländisch aussah. Am Ende wusste Elsa gar nicht, was sie anziehen oder mitnehmen sollte, schließlich konnte sie sich nicht mit Gepäck belasten. Es war bestimmt schon nach Mittag, als Elsa gewaschen, gekämmt und in Amandis’ Reisekleid mit Strickjacke im großen Salon erschien. Sistra und Nikodemia saßen am großen Esstisch, der leer geräumt war, und zeichneten komische Kreise auf ein riesiges Papier. Sistra sprach, Nikodemia nickte ab und zu.
Morawena saß abseits, hörte zu, schaute aber nicht hin. Ihr Gesicht sah aus, als hätte sie einen
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