Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
sich die Kreise berühren, hinterlasst ihr Spuren. Nicht nur dort, wo ihr eine Welt betretet oder verlasst, sondern auch in den Welten, deren Zwischenraum sich mit den entsprechenden Welten überlappt. Kannst du dir das System merken, das ich dir erklärt habe?“
Nikodemia nickte, den Blick fest auf die Kreise gerichtet.
„Es ist kompliziert, aber ich habe es im Gefühl. Ich habe immer gemerkt, wenn Welten irgendwie zusammenhängen und daran liegt es ja dann wohl.“
„Ich kenne das System in- und auswendig“, sagte Morawena und setzte sich auf den Stuhl neben Nikodemia. „Ich habe es bloß nie angewandt. Er kann mich fragen, wenn er was vergessen hat.“
„Gut“, sagte Sistra. „Verlasst euch nicht darauf, dass die Spuren vier Wochen später unlesbar geworden sind. Sie arbeiten an einer verbesserten Methode.“
Es trat eine Gesprächspause ein, in der Nikodemia noch mal die Kreise studierte, die Sistra ihm aufgezeichnet hatte. Amandis strich um den Tisch herum wie eine Katze. Sie war unruhig. Morawena hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und betrachtete die merkwürdige Zwischenraum-Landkarte wie eine hübsche Tischdecke. Sistra wandte sich an Elsa.
„Wir warten noch auf Nachricht“, sagte sie. „Der Rat bespricht sich länger als vorgesehen. Es ist nicht zu erwarten, dass das Ergebnis erfreulich ausfällt, aber wir wollen es doch wenigstens abwarten, bevor wir euch für immer wegschicken.“
Elsa erwiderte Sistras Blick. Bestand Grund zur Hoffnung? Nein, Sistra sah nicht so aus.
„Es gibt da etwas, das ich nicht verstehe“, sagte Elsa.
„Ja?“
„Es heißt, dass uns die Ganduup erpressen wollen. Aber wenn sie damit drohen, Sommerhalt zu zerstören, und einer von uns gibt nach, um diese Zerstörung zu verhindern – was wäre damit gewonnen? Wenn ein Rabe mit den Ganduup durch das letzte Tor geht, hören alle Welten auf. Nichts und niemand wird gerettet.“
„Du denkst zu menschlich“, sagte Morawena.
„Und das heißt?“, fragte Elsa.
Da Morawena keine Anstalten machte, zu antworten, tat es Sistra für sie:
„Sie wollen euch das Leben verleiden. Ihr sollt es satt haben, Menschen zu sein, die lieben, hoffen, trauern, sich quälen. Sie wollen euch so sehr zermürben, dass ihr euch nach Erlösung sehnt. Sie erwarten nicht, dass ihr kommt, um eure Heimat zu retten. Sondern sie zerstören eure Heimat, damit ihr verzweifelt genug seid, alle Menschlichkeit über Bord zu werfen. Wenn alle Orte und alle Menschen, die ihr liebt, vernichtet sind – wer oder was sollte euch dann noch daran hindern, die Schmerzen für immer hinter euch zu lassen? Koste es, was es wolle?“
„Aber … was ist dann mit Nada? Oder mit dir, Sistra? Wenn sie so vorgehen, seid ihr doch in großer Gefahr?“
„Ja, das ist tatsächlich so“, sagte Sistra. „Deswegen lass dir niemals anmerken, welche Menschen dir am Herzen liegt. Du würdest ihr Leben riskieren.“
Elsa schwieg schockiert. So hatte sie die Dinge noch nicht betrachtet.
„Möchtet ihr noch etwas essen?“, fragte Amandis.
Nikodemia wollte. So wurde die Karte beiseite geräumt, der Tisch gedeckt und Essen aufgetragen. Elsa stand die ganze Zeit daneben und schaute zu. Zwischendurch kam Golo herein, Sistras großen, roten Kater auf dem Arm. Robiss fehlte ein Ohr, doch davon abgesehen hatte er die letzten Jahre gut überstanden. Er schaute Elsa vorwurfsvoll an, mit seinen grünen Augen, als wüsste er, dass die Schlacht, in der sie sich das letzte Mal begegnet waren, auf ihr Konto ging. Golo wünschte Elsa eine gute Reise und ein langes Leben, nicht ganz selbstlos, wie er zugab. Es sei ihm nicht daran gelegen, dass sie vergesse. Mit Robiss unterm Arm und einem gefüllten Teller in der Hand verschwand Golo wieder im Nebenzimmer, jedoch nicht, ohne Sistra vorher einen tröstenden Schubser zu geben.
Da sie erst gefrühstückt hatte, konnte Elsa nicht viel essen. Sie lauschte dem Gespräch, das Niko, Morawena und Amandis miteinander führten. Meist ging es um Brisa, ums Matrosenviertel, um die Küste und was sie dort schon gemacht hatten. Morawena fragte, ob es dieses Gasthaus, jenen Garten oder ihren Lieblingsspazierweg noch gebe. Sistra sagte nichts dazu. Ihr stand der Kummer ins Gesicht geschrieben.
Schließlich kam der Antolianer, den man erwartet hatte. Elsa kannte ihn nicht, aber als sie ihn sah, kamen ihr Zweifel, ob es in Antolia mit rechten Dingen zuging. Denn dieser Mann, der Hentiak genannt wurde, besaß nicht nur die üblichen
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