Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
kam.
Kurz darauf weihte mich meine Mutter in das Geheimnis meiner dunklen Seele ein und lehrte mich alles, was ich wissen musste, um mich zu tarnen und zu kontrollieren. Sie glaubte fest daran, dass ich stärker sein könnte als das Böse, das angeblich in mir schlummerte. Dass ich im Geheimen überleben könnte, unerkannt und unbekämpft. Weil sie es glaubte, glaubte ich es auch. Es klappte jahrelang sehr gut. Sogar dann noch, als meine Mutter plötzlich starb und mein Vater seinen Verstand verlor. Damals war ich dreizehn. Der Verlust war schrecklich, beinahe unerträglich, aber zu der Zeit war ich schon sehr in Gerard verliebt. Ich malte mir aus, dass ich mein Leben mit ihm verbringen und eines Tages mein Geheimnis mit ihm teilen könnte. Er würde mich beschützen, wie es meine Mutter getan hatte. Dieser Traum füllte mich aus. Er war mein Leben.
Als meine Mutter im Sterben lag, sprach sie mit Sistra. Sie verriet ihr die Wahrheit über mich und nahm ihr das Versprechen ab, mich in Ruhe zu lassen, so lange ich friedlich blieb. Davon wusste ich nichts, Sistra erzählte mir auch nichts davon. Ich erfuhr es erst vor ein paar Tagen von ihr. Sistra war damals schockiert. Doch ich war ihre Schwester und sie liebte mich. Eisern hielt sie ihr Versprechen und behielt mich sorgfältig im Auge. Als ich mich Jahre später ganz plötzlich in eine rachsüchtige Mörderin verwandelte, blieb ihr keine Wahl. Ihre Schwester hatte den schlechten Weg gewählt, so wie alle Raben vor ihr, und so musste sie handeln. Sie schlug überraschend schnell zu und sperrte mich ein. Es musste sein, aber jeder Tag danach schmeckte ihr bitter.“
Obwohl Elsa unbedingt wissen wollte, was Morawena ihr erzählte, verspürte sie doch eine große Müdigkeit. Oder das Verlangen, nicht an Käfige denken zu müssen. Sie schloss die Augen.
„Elsa?“
Morawena schüttelte sie am Arm.
„Ich bin so müde“, sagte Elsa entschuldigend und öffnete wieder die Augen. „Du musst unbedingt weiterreden.“
„Aber es langweilt dich.“
„Nein, nein!“, rief Elsa. „Rede! Aber erzähl mir nichts von deiner Zeit im Käfig. Das ist die einzige Bedingung.“
„Ach so“, sagte Morawena. „Ich verstehe.“
„Erzähl mir lieber von dem Morgen, an dem du dein Versprechen gebrochen hast.“
„Mord ist besser als Käfig?“
„Ja. Gerade schon.“
„Es ist keine besonders blutrünstige Geschichte. Ich habe es ja nicht selbst getan, ich war auch nicht dabei. Ich kam erst dazu, als es zu spät war. Ich sah den toten Gerard. Aber bevor ich zu ihm rennen und mich verzweifelt auf ihn stürzen konnte, haben Sistras Möwen mich festgesetzt.“
„Als es passiert ist, wolltest du es gar nicht mehr?“
„Nein. Ich wollte es nur an dem einen Morgen. Nachdem er mir gesagt hatte, dass ich verschwinden soll. An dem Morgen wusste ich vor Schmerz nicht ein noch aus. Ich wollte, dass es aufhört. Ich wollte ihn bestrafen. Ich wollte die Jahre auslöschen, die jetzt so wehtaten. Ich wollte alles auslöschen. Ich spielte mit dem Gedanken, ein richtiger Rabe zu werden. Das fiese Monster, das sich auf Kosten anderer durch die Ewigkeit frisst und keine Ruhe gibt, bis alle Lichter aus sind. Warum auch nicht? Ich dachte, das wäre vielleicht der angenehmere Weg. Besser als die Schmerzen auszuhalten und sich zu trollen wie ein getretener Hund. Das war unter meiner Würde. Ich wollte die Kontrolle zurück. Ich bin sicher – ganz sicher – dass ich zur Vernunft gekommen wäre, wenn ich an dem Morgen mit Nada oder Anbar gesprochen hätte. Aber Nada war in Trotz und Anbar steckte in seinem ersten Dienstjahr als Außengänger. Er war unerreichbar.
Bei den Ganduup hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Das war gut, aber es war auch quälend. Ich habe vieles bereut, nicht nur den Mord. Es ist mir sehr nachgegangen, dass ich Anbar nie richtig Lebewohl gesagt hatte. Wir sahen uns das letzte Mal, als Gerard und ich von unserer Reise zurückkamen. Das war ein schrecklicher Abend. Ulissa hing heulend an meinem Bein, weil ein Kind, das ich nie gekannt hatte, sich unbedingt hatte zu Tode stürzen müssen. Aus dem gleichen Grund war auch Nada niedergeschlagen und wortkarg. Ich aber hatte überhaupt keine Nerven für diese Geschichte. Ich wollte alleine sein. Es machte mich wahnsinnig, nach Hause zu kommen und doch nicht nach Hause zu kommen, weil nichts mehr so war wie früher.
In diesem ganzen Elend tauchte Anbar auf, um sich von mir zu verabschieden. Sein erstes Dienstjahr begann und
Weitere Kostenlose Bücher