Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
gewesen, dass sie sich beim Anblick des Steins gut gefühlt hatte. Jetzt sah sie ihn an und in ihrem Innern zog sich alles zusammen. Sie musste an die schlechte Laune denken, die Anbar in Wenlache gehabt hatte. Daran, wie er mit Segerte gesprochen hatte, ohne sie anzusehen. Vor allem aber daran, dass er nicht gekommen war, um ein letztes Mal mit ihr zu sprechen.
Das Licht des Steins sagte ihr jetzt, dass ihre Gefühle unangemessen gewesen waren. Nicht unverstanden, dennoch fehl am Platz und im Großen und Ganzen unerwünscht. Was sich daraus ergeben hatte – der vollkommene Kuss – war eine Dummheit gewesen. Eine Peinlichkeit, ein Fehler. So sah es aus, im Licht des Steins, und weil sie das nicht ertragen konnte, steckte sie ihn wieder weg und begnügte sich mit der Finsternis.
Irgendwann fiel ihr ein, dass sie etwas vergessen hatte. Sie hatte Romer ihre Adresse in Kristjanstadt nennen wollen, damit Anbar seinen anderen Stein dort abholen konnte. Aber das hatte sie verschwitzt, vor lauter Gerede, und nun musste der Stein bleiben, wo er war. Elsas Augen brannten wie Feuer, wenn sie an Kristjanstadt und ihr Zimmer dachte. Aber sie weinte nicht. Nicht mal, als ihre Gedanken zu Gunther-Sven sprangen. Voller Liebe dachte sie an ihn. Sie hatte ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen. Manchmal ging es eben nicht anders, obwohl man es doch eigentlich gut meinte.
Nach der zweiten Nacht war Elsa ein Nervenbündel. Sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie noch fünf Tage in der feuchten, düsteren Einsamkeit verbringen sollte. Vor allem die Nächte schreckten sie, weitere Nächte mit dem beschämenden Licht des leuchtenden Steins oder völliger Dunkelheit. Am liebsten wäre sie weggelaufen. Wie sie so darüber nachdachte, hielt sie die Idee für gar nicht so schlecht. Sie könnte doch einfach für vier Tage in eine bewohnte Welt verschwinden und dann wiederkommen. Natürlich würde sie sehr vorsichtig sein und gut aufpassen. Den beiden anderen würde sie eine Nachricht an die Höhlenwand schreiben, für den Fall, dass sie eher zurückkämen und sich Sorgen machten. Ja, das war die Erlösung! Sie suchte einen spitzen Stein und kratzte ihren Abschiedsgruß an die Wand: „Bin am dritten Tag aufgebrochen. Komme in vier Tagen zurück.“
Dann flog sie hinaus in den Regen und fand Nikodemias kleines Tor. Es war schon viel größer geworden, da sie es so häufig benutzt hatten. Erstaunlich groß, eigentlich. Das Gleiche dachte sie, als sie nach vier Tagen zurückkehrte. Ihr Ausflug war nicht sonderlich erbaulich gewesen. Ohne Gold, anständige Kleidung und durchfeuchtet, wie sie war, stieß sie nirgendwo auf Gegenliebe. Was sie zum Leben brauchte, hatte sie sich zusammenklauen müssen, und geschlafen hatte sie auf der Straße. Sie war sehr niedergeschlagen, wollte es sich aber nicht anmerken lassen, wenn sie die anderen traf. Sie hoffte, dass sie da waren. Sie freute sich darauf. Zum ersten Mal seit Wenlache gab es etwas, das sie froh machte, und das war das bevorstehende Wiedersehen mit Nikodemia und Morawena.
Nachdem sie das Tor durchquert hatte, nahm sie es mit der Vorsicht nicht mehr so genau. Sie flog geradewegs zur Höhle, verwandelte sich am Eingang in einen Menschen und trat in die vertraute Dunkelheit. Kurz überlegte sie, ob die anderen kein Feuer hatten anmachen können, aber da niemand rief und ihr entgegenkam, vermutete sie, dass die Dunkelheit leer war. Das machte nichts, es konnte nicht lange dauern, bis sie kamen. Mit diesem Gedanken im Kopf machte sie den nächsten Schritt und der war verhängnisvoll: Ein Netz aus Möwenfäden, fein gesponnen wie ein Schleier, zog sich rund um sie herum zusammen und bedeckte sie wie Morgentau. Gleichzeitig wurde sie von vier Menschen gleichzeitig gepackt und festgehalten. Sie war vollkommen hilflos: Es gab nichts, was sie hätte tun können, um sich zu befreien.
Der Ort, den sie für eine verlassene Höhle gehalten hatte, veränderte sich schlagartig in einen ganz anderen Schauplatz. Überall gingen Lichter an, überall waren Menschen, die hin- und herliefen, und Gerätschaften, Koffer und Waffen mit sich herumtrugen. Mittendrin, an der Höhlenwand, stand ihre dumme, unsinnige Botschaft, in der sie ihren Feinden klar gemacht hatte, wann genau sie zurückkommen würde, um in die fertige Falle zu laufen. Es war eine Schande, wie hirnlos sie gescheitert war.
Ganz offensichtlich erwarteten ihre Feinde keine weiteren Raben. Entweder hatten sie Nikodemia und Morawena schon
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