Rabenschwärze - Der Grubenmann (German Edition)
dich und wird dich bestrafen.“
„Das ist kleinlich. Der Schöpfer sollte großzügiger sein.“
„Er liebt dich und ist um dein Wohl besorgt.“
Migrall zuckte mit den Achseln. Der Schöpfer war ihr ganz bestimmt egal. Trotzdem musste sie in der letzten Reihe der Kapelle sitzen und sich anhören, was der Schöpfer wollte und was nicht. Vor jeder Mahlzeit, nach dem Aufstehen und vor dem Schlafengehen sollte sie Gebete aufsagen, ihm danken, ihn um Verzeihung bitten und beteuern, wie unbedeutend sie war. Wenn sie laut beten musste, sprach sie die Wörter klar und richtig aus. Doch in Gedanken war sie woanders. Für sich alleine betete sie nie, wenn sie auch auf den Knien saß und die Kerze anzündete, die Lauda ihr geschenkt hatte. Das Kerzenlicht war schön. Mehr Gebet brauchte sie nicht.
Abends, wenn Migrall im Bett lag, drehte Lauda den Schlüssel ihrer Kammertür herum. Die Fenster von Laudas Kammer waren so klein, dass niemand durch sie herein oder hinaus konnte. Die echte Migrall hatte bestimmt darunter gelitten, eingesperrt zu sein. Elsa störte es nicht. Sie fühlte die Grenzenlosigkeit in jedem Augenblick. Dieses Gefühl der Unendlichkeit durchdrang sie, es war die Luft, die sie atmete, der Stoff, der sie lebendig machte. Sie hielt es in jeder noch so kleinen, abgesperrten Kammer aus, wenn sie nur wusste, dass der Weg in den Zwischenraum für sie offen war, und das war er.
Sie hatte gute und schlechte Tage. An guten Tagen machte sie alles, was man von ihr verlangte. Sie half beim Sticken, beim Häkeln, beim Flechten und Nähen. Sie tat es gern, schwebte die ganze Zeit in und über ihrem Tun, besaß eine Gelassenheit, die sie froh machte, und schlief abends ein, dankbar dafür, dass sie am Leben war. An schlechten Tagen hasste sie schon die Brühe, die man hier Frühstück nannte. Vor allem die glitschigen, aufgeweichten Körner, die darin schwammen. Sie langweilte sich beim Arbeiten, hasste die Zeichen, die sie sticken, und die Schürzen, die sie flicken musste. Sie ärgerte sich über die Belehrungen ihrer Ziehmutter und hätte dem Prediger, wenn er zu Besuch kam, am liebsten das Gebetsband in den Mund gestopft. Sie tat es aber nicht, sie hörte ihm zu und lächelte allerliebst, wenn er ihr etwas erklärte. Je mehr ihr missfiel, was er sagte, desto hingebungsvoller lächelte sie, und sie ließ erst dann von ihm ab, wenn er mit rotem Kopf das Gebetsband in der Faust zerknäulte.
„Sie ist die Sünde“, hörte sie den Prediger zu Lauda sagen. „Wenn es dir gelingt, sie zu retten, wird dir ein Platz im Himmel sicher sein.“
„Es geht mir nicht um den Platz im Himmel“, antwortete Lauda, „denn sie ist wie mein eigenes Kind und ich will ihr Bestes.“
„Manchmal sehe ich in ihren Augen ein tieferes Verstehen“, sagte der Prediger. „Doch gleichzeitig schaut ihr der Teufel über die Schulter.“
„Ihre Seele ist unschuldig.“
„Aber wie lange noch?“
Dann schüttelten sie beide einträchtig ihre sorgenschweren Häupter und Migrall kam nicht umhin zu vermuten, dass sich Lauda in solchen Momenten sehr wohl fühlte.
Als der Richter ins Dorf kam, trug ihm Lauda Migralls Fall vor. Dass das Mädchen überfallen und fast getötet worden wäre. Zum Beweis zeigte sie ihm Elsas Brandnarben, von denen sie etliche am ganzen Körper besaß, die wohl nicht mehr heilen würden. Auch Elsas schwarze Zeichen auf dem Rücken führte sie vor:
„Die hatte sie früher nicht. Jemand hat sie ihr eingebrannt, ist das nicht schrecklich? Dass sie das überlebt hat, ist nur meiner alten Tante im Wald zu verdanken!“
„So etwas habe ich noch nie gesehen“, sagte der Richter verwundert. „Was haben die Leute gegen das Mädchen?“
„Fragen Sie mich nicht. Ich hab sie gottesfürchtig erzogen! Aber die roten Haare, ihre aufmüpfige Art und die ungeklärte Herkunft: Die Leute haben Angst vor ihr. Sie behaupten, sie könne sich in einen Vogel verwandeln. Ist das nicht schrecklich? Wegen so einem Aberglauben beschmutzen sie ihre Seele!“
„Seltsame Sitten herrschen hier draußen“, sagte der Richter. „Sie sollten das Mädchen in die Stadt schicken und dort in einen Haushalt geben.“
„Ich habe schon daran gedacht. Aber in der Stadt herrscht die Sünde und sie ist noch nicht standhaft genug, den Anfechtungen zu widerstehen.“
„Besser die Sünde als der Tod. Ich werde mich umsehen und wenn ich eine geeignete Stelle gefunden habe, sage ich Ihnen Bescheid.“
Lauda nickte und bedankte sich vielmals.
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