Rabenschwarz
Zentimeter von seinen Schuhspitzen entfernt ging es etwa fünfzehn Meter in die Tiefe. Erschrocken wich Herbie zurück. Julius schlenderte arglos auf den Abhang zu und beugte sich weit vor, um einen noch besseren Blick zu gewinnen. Das war für Herbie beinahe noch schlimmer. Andere am Rande eines Abgrunds zu beobachten, war für ihn immer der Gipfel des Entsetzens gewesen. Sein Magen rebellierte auf der Stelle.
»Ich war heute Morgen bei der Polizei. Sie haben mir Fotos gezeigt.« Richard kramte ein Päckchen Zigaretten hervor, steckte sich eine an und blies gedankenverloren den bläulichen Qualm in Richtung Sonnenuntergang. »Sie haben auch von hier oben fotografiert. Selbst wenn ich das vergessen wollte, was ich dort gesehen habe, ich könnte es nicht. Ich habe die Stelle sofort gefunden, von wo sie das Foto gemacht haben. Genau hier.«
Herbie trat an seine Seite und vermied es, näher als drei Schritte an den Abhang heranzukommen.
»Sie hat ganz komisch dagelegen. Irgendwie gar nicht so, wie man das aus Filmen kennt oder so. Ein Wandererpärchen aus dem Ruhrgebiet hat sie gefunden.«
»Sie lag komisch da?«
»Na ja, nicht mit abgewinkelten Armen und Beinen, sondern eher so zusammengekrümmt. Sie muss die letzten paar Meter gerollt sein, siehst du, da unten ist eine kleine Böschung. Auf die muss sie zuerst ...« Seine Stimme bekam einen kieksigen Tonfall, und er verstummte. Er zog an seiner Zigarette und inhalierte tief.
Schade, dass so etwas gerade hier passiert. So ein idyllisches Fleckchen. Erinnert ein bisschen an Caspar David Friedrich, findest du nicht? Julius seufzte schmachtend. Herbie fand, dass dies keineswegs der rechte Zeitpunkt für seine Späßchen war. Es handelte sich jedoch in der Tat um eine bemerkenswert schöne Landschaft, auf die sie hinabblickten. Der sanft ansteigende gegenüberliegende Hang war bereits von abendlichem Halbdunkel bedeckt. Nur hie und da warf noch ein alter Obstbaum mit seinem wirren Geäst bizarre Schatten auf die bucklige Wiese. Von ihrem Platz aus war der kleine Bachlauf in der Mitte des Tales nur zu erahnen, aber Herbie erinnerte sich an ein paar Gelegenheiten, bei denen er zu Besuch in Buchscheid gewesen war und an wilden Wasserspielen teilgenommen hatte. Unten, in der Schlucht des ehemaligen Grauwackebruchs, störte sporadisch abgekippter Zivilisationsmüll die Idylle erheblich. Er erkannte ein paar alte Autoreifen, halb überwucherte Farbeimer und das rostige Innenleben einer Matratze. Im Geäst eines schief gewachsenen Ahorns flatterte glitzernd ein Stück Band aus einer Musikcassette. Hinter einer Anhäufung von Grauwackeschutt erspähte er die Überreste eines kleinen Feuers. Über die ganze Fläche des alten Steinbruchs hatte die Natur zaghaft, aber stetig wieder die Herrschaft errungen. Schlinggewächse tasteten sich gemächlich an den nackten Felsen empor, und Brennesseln sprossen aus dem Gerümpel. Und mitten in dieser Szenerie gab es eine kahle Stelle, auf der nichts wuchs außer störrischem Gras, über das der Herbstwind strich. Und genau an dieser Stelle schien Rosis Leiche gelegen zu haben.
»Ist sie öfter hier spazieren gegangen? Ich meine: früher, als ihr beide noch zusammen wart.«
Richard kniff nachdenklich die Mundwinkel zusammen. »Nein, praktisch nie. Ist ja eine ganz schöne Strecke, zu Fuß bis hierher.«
»Merkwürdig, nicht?«
»Hab ich auch schon überlegt. Wenn ja irgendwo in der Nähe ihr Auto gestanden hätte oder wenigstens ihr Fahrrad.« Er erhob beschwörend die Hände zum Himmel. »Aber das ändert ja alles überhaupt nichts an dieser gottverdammten Tatsache, dass sie gestern da unten gelegen hat. Sie ist tot! Scheißegal, wie sie hierhergekommen ist. Genauso egal, warum sie hierhergekommen ist. Rosi ist tot, und all dieses Warum und Weshalb macht sie kein bisschen lebendiger!« Er schrie die Worte voller Verzweiflung über das Tal hinaus und sackte entkräftet in sich zusammen.
»Du hast natürlich recht. Lebendig wird sie dadurch bestimmt nicht wieder. Aber diese Fragen drängen sich doch auf, oder?« Herbie wagte wieder einen zaghaften Blick in die Tiefe des Steinbruchs. »Und vielleicht findest du ja irgendetwas heraus, wenn du ihnen nachgehst ...«
Richard wandte mit einem Ruck den Kopf zu ihm um. Sein Profil zeichnete sich scharf gegen das rötliche Licht des Abendhimmels ab. »Irgendetwas?«
»Nun ja. Mal angenommen, Rosi ist überhaupt nicht aus Versehen hier hinuntergestürzt.«
»Quatsch!«, fuhr
Weitere Kostenlose Bücher