Rabenvieh (German Edition)
irgendwann um und so musste er bis zehn zählen, während ich mich versteckte. Ich versteckte mich hinter einem der zahlreich hochgewachsenen Sträucher im Garten. Lange wartete ich, aber Pascal kam nicht. Ich machte mir zunächst keine großartigen Gedanken darüber, da ich annahm, dass er auf dem Weg wieder etwas Interessantes gesehen hätte und schlichtweg vergaß oder das Interesse verloren hätte, mich zu suchen. Einige Minuten später machte ich mich dennoch auf den Weg. Ich huschte dabei von Strauch zu Strauch, falls er auf dem Weg war, um mich zu suchen und mich nicht gleich finden würde.
Ich schlich mich von einem Strauch weiter an die Ecke der Hausmauer, um zu sehen, was der Kleine trieb. Als ich um die Ecke schielte, traf mich fast der Schlag. Mit geöffneten Augen lag Pascal regungslos am Boden, das Bonbon, das er im Mund hatte, lag mitten in einer Blutlache. Ich lief zu ihm hin und schüttelte ihn, in der Hoffnung, dass er auf meine Berührungen reagieren würde. Doch er rührte sich nicht. Er blutete aus dem Mund und ich sah eine Schramme an seinem Kopf, die ebenfalls leicht blutete. Ich vermutete, dass er beim Herabgehen der Terrassentreppe mit einem Fuß zwischen den Treppen hängen blieb und kopfüber auf den Beton stürzte. Ich lief so schnell ich konnte in die Küche. Meine Pflegemutter war nach wie vor mit dem Lösen ihrer Kreuzworträtsel beschäftigt, als ich ihr aufgeregt schilderte, was geschehen sei. Sie schrie mich an, sprang von ihrem Sessel, rempelte mich zur Seite und lief hinters Haus, dort wo Pascal lag. Mir war sofort klar, dass ich für all das, was nun folgen würde, die Verantwortung trug, denn schließlich hatte sie mir die Aufsichtspflicht übertragen. Nun konnte ich nur hoffen und tatenlos zusehen, während sich meine Pflegemutter um ihn kümmerte.
Es fiel mir ein Stein vom Herzen, als Pascal irgendwann zu weinen begann und sich bewegte. Er wurde in das Kinderkrankenhaus gebracht und dort zur stationären Abklärung aufgenommen. Pascals Eltern wurden verständigt, während ich zu Hause in meinem dunklen Kellerverlies saß, an meinen Nägeln kaute und hoffte, dass die Verletzungen nicht so schlimm waren, wie es zunächst aussah. Zugleich war ich mit der Frage beschäftigt, was mich als Strafe erwarten würde. Als meine Pflegemutter nach Hause kam, erntete ich wutschäumende Blicke. In weitere Folge schimpfte sie mich als unfähig, tölpelhaft, dumm, unbrauchbar, nutzloses Ding. Ich war erleichtert, dass es nur Beschimpfungen waren, denn ich hatte mich auf erbarmungslose Prügel eingestellt.
Erfreulicherweise waren Pascals Verletzungen nicht so folgenschwer, wie es zunächst aussah. Er konnte wenige Tage darauf wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden. Er blieb nach diesem Vorfall noch etwa zwei Jahre bei meiner Pflegemutter zur Betreuung, ehe er mit seinen Eltern in eine andere Stadt zog. Als Dankeschön für meine liebevolle Fürsorge in all den Jahren bekam ich beim Abschied von Pascals Eltern einen fünfhundert Schilling Schein, also knapp vierzig Euro. Ich war etwa dreizehn Jahre alt und hatte so einen Schein noch nie zuvor in meinen Händen, geschweige denn, dass ich sagen konnte, dass dieses viele Geld meines wäre. Ich bedankte mich tausend Mal dafür, verabschiedete mich unter Tränen von Pascal und seinen Eltern und verschwand in meinem Zimmer. Natürlich ist es meiner Pflegemutter nicht entgangen, dass ich dieses Geld überreicht bekam, und erntete dafür giftige Blicke. Den Rest des Tages war ich ausschließlich damit beschäftigt, den Schein immerfort von beiden Seiten zu betrachten. Ich wollte ihn mir gut aufheben und erst für einen besonderen Zweck gebrauchen. Ich verstaute ihn in meinem Schrank zwischen den T-Shirts. Tag für Tag, wenn ich von der Schule nach Hause kam, ging ich sofort in mein Zimmer, nahm den Schein aus dem Schrank, betrachtete ihn stolz von beiden Seiten und legte ihn wieder auf seinen Platz zurück. Dasselbe tat ich nochmals, bevor ich zu Bett ging. Eines Tages war er jedoch nicht mehr an seinem Platz. Verzweifelt suchte ich nach meinem Geld. Ich warf alle T-Shirts und Pullover auf den Boden, um danach jedes einzelne T-Shirt und jeden einzelnen Pullover zu durchsuchen. Ich klammerte mich an dem Gedanken, dass ich möglicherweise einmal unachtsam gewesen sein könnte und ihn versehentlich woanders dazwischen gelegt haben könnte. Doch dem war nicht so. Er war und blieb auf alle Zeit verschwunden.
Am Ende meiner Kräfte
Die ganze Farce
Weitere Kostenlose Bücher