Rabenvieh (German Edition)
der großen Pause im Schulgebäude zu bleiben. Aber auch über dieses Verbot sah ich, wie bei vielen anderen neuerdings auch, einfach drüber hinweg. Als ich sicher war, dass sich niemand mehr im Schulgebäude befand, schlich ich mich aus der Toilette, weiter den Gang entlang und blieb unmittelbar vor meinem Klassenzimmer am Fenster stehen. Ich beobachtete vom zweiten Stock aus meine Mitschüler, wie sie in Gruppen im Innenhof standen, ihre Pausenbrote verspeisten und mit anderen herumalberten. Ich beneidete sie darum, dass sie, im Gegensatz zu mir, ein unbeschwertes Leben führen konnten. Ich stand da, stellte mir vor, einer von ihnen zu sein und im selben Moment überkam mich das Gefühl des ewigen Verlierers. Ich ballte meine rechte Hand zu einer Faust und schlug mit voller Wucht gegen die doppelt verglaste Scheibe. Mit einem riesen Knall zerbrach sie in tausend Teile. Schüler sprangen kreischend zur Seite, als sie den herabstürzenden Scherben entgegenblickten. Zahlreich verschreckte Gesichter blickten nach oben, und als sie mich da am Fenster stehen sahen, schrien einige von ihnen gemeine Dinge zu mir hoch. Ich indes stand da mit einer völligen Gleichgültigkeit. Ich drehte der in Scherben zerbrochenen Fensterscheibe den Rücken zu, lehnte mich an die Fensterbank und begann mir die Splitter aus meiner Handfläche zu zupfen. Ich sah kurz auf und blickte in Richtung Stiegenaufgang, von der ich jemanden hastig über die Stufen eilen hörte. Unmittelbar danach sah ich schon meinen Klassenlehrer um die Ecke biegen. Stinkwütend steuerte er auf mich zu und blaffte mich schon von Weitem an, was ich verdammt noch mal im Schulgebäude zu suchen hätte. So gleichgültig wie mir alles war, ignorierte ich aber auch ihn. Er war fast außer sich vor Wut, allen voran deshalb, weil ich mich über die Regel hinwegsetzte. Als er dann so vor mir stand, sah ich ihn mehrmals kurz an und es kam mir dabei vor, als könnte ich durch ihn hindurchsehen. Es war ein ganz eigenartiges Gefühl. Obwohl er so dicht vor mir stand, war er irgendwie doch nicht anwesend. Ich gab ihm weder Antwort, noch zeigte ich irgendeine Reaktion auf seine Standpauke.
»Hast du dich verletzt?«, fragte er mich und begutachtete dabei meine rechte Hand. Wieder sagte ich nichts, sondern schüttelte nur verneinend den Kopf.
Fünf Tage nach diesem Vorfall saß ich gemeinsam mit meiner Pflegemutter im Konferenzzimmer. Gegenüber von uns saß mein Klassenlehrer, vor ihm liegend das Klassenbuch. Er konfrontierte meine Pflegemutter mit dem aktuellen Vorfall und meiner Reaktion darauf, mit der Tatsache, dass meine schulischen Leistungen zunehmend zu wünschen übrig ließen, dass ich meine Hausaufgaben unregelmäßig brachte, dass ich seit Neuem ein Störenfried im Unterricht wäre und zu allem Überfluss auch noch sämtliche Regeln missachten würde. Er stellte ihr die Frage, ob es zu Hause Schwierigkeiten gäbe und ob sie wisse, was der Auslöser für diese abrupte Verhaltensänderung sei.
Aufgetakelt und mit einem freundlichen Gesichtsausdruck saß sie neben mir und war damit beschäftigt, ihren gekünstelten Charme spielen zu lassen. Als Antwort gab sie ihm, dass sie selbst nicht wüsste, was der Auslöser für mein Verhalten wäre. Sie selbst wären ratlos. Sie meinte, ich wäre von jeher gut in die Familie integriert und sie seien allzeit bemüht, mich so gut wie möglich zu fördern und zu unterstützen.
Ich fühlte, wie sich mein Herzschlag binnen Sekunden verdoppelte. Ich ballte meine Hände zu einer Faust, biss die Zähne zusammen und schluckte mehrmals hintereinander. Ich war kurz davor, all meine Wut hinauszuschreien, aber ich riss mich zusammen. Mein Klassenlehrer kaufte ihr diese ganze Show auch noch ab. Und als hätte sie mit ihrer Vorstellung noch nicht genug gepunktet, setzte sie wenig später gleich noch eines drauf und meinte, dass sie sehr froh darüber wäre, mit der Schule so gut zu kooperieren und wenn es ein erneutes Problem mit mir gäbe, er sie jederzeit anrufen könne. Ich war so voller Hass. Ich hätte ihr am liebsten ins Gesicht gespuckt.
Der Vorfall mit dem Fenster lag bereits vier Wochen zurück. Meine Verletzungen von den Misshandlungen bezüglich der kaputten Fensterscheibe waren wieder vollständig abgeheilt. Eines Morgens kurz vor Unterrichtsbeginn eilte ich noch schnell auf die Toilette. Unmittelbar danach folgte mir Rebecca. Ich hasste Rebecca, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie mich bereits über Monate hinweg erpresste.
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