Rabenvieh (German Edition)
vorzuarbeiten.
Die Nacht vor dem Aufsuchen der einstigen Wohnadresse meiner Eltern zog sich endlos lange. Während Patrick schlief und mich dabei liebevoll im Arm hielt, lag ich da und war die ganze Nacht am Überlegen, was mich in wenigen Stunden erwarten würde. Ich malte mir in meinem Kopf die schönsten Bilder aus, allen voran, dass ich meine Eltern fände und sie mich freudig empfangen würden.
Draußen war es noch dunkel. Patrick schlief noch immer tief und fest, ich indes lag nach wie vor wach daneben und zermarterte mir den Kopf. Weiterhin im Bett zu bleiben fiel mir mit jeder Minute schwerer. Ich stand auf, schlich leise aus dem Schlafzimmer, ging in die Küche und machte mir einen Kaffee. Um mich abzulenken, nahm ich eine Zeitschrift, las darin, aber ich bemerkte schnell, dass ich das Gelesene nicht aufnahm, da mein Unterbewusstsein zu sehr mit dem anstehenden Tag beschäftigt war.
Ich drängte bereits frühmorgens aus dem Haus. Es war Patricks freier Arbeitstag, was nicht nur hilfreich für meine seelische Unterstützung war, sondern er fuhr mich, damit ich mich nicht auch noch auf den Verkehr konzentrieren musste. Patricks Bemühungen, mich während der Fahrt mit allen möglichen Dingen abzulenken, schlugen fehl. Ich war nur noch mit einem einzigen Thema beschäftigt - mit meinen Eltern.
Unter der Adresse auf dem Taufschein fanden wir schließlich ein stark renovierungsbedürftiges Haus mit Garten und einem kleinen Nebengebäude, das ebenfalls sehr verwahrlost schien und den Eindruck hinterließ, dass hier niemand mehr wohnhaft wäre. Patrick ließ mich aus dem Wagen steigen, und während er in der Umgebung nach einem Parkplatz suchte, begutachtete ich das Haus und die unmittelbare Umgebung. Da war ich also einmal zu Hause, dachte ich. Meine Nervosität war kaum noch auszuhalten. Ich zappelte nur noch nervös von einem Bein auf das andere. Ich fuhr mir noch ein paar Mal durchs Haar, suchte nach Fusseln an meiner Kleidung und begutachtete noch einmal meine Schuhe. Wenn ich meinen Eltern vielleicht bald gegenüberstehen würde, wollte ich schließlich ordentlich aussehen. Ich wartete auf Patrick. Erst als er neben mir am Gartentor stand, betätigte ich den Klingelknopf, der tief im desolaten Gehäuse versank. Mein Blick richtete sich dabei ungebrochen auf die Eingangstür des Wohnhauses. Es tat sich nichts. Nochmals drückte ich den Knopf tief in das Gehäuse. Abermals keine Anzeichen dafür, dass wir hier noch jemanden antreffen würden. Meine Hoffnung schwand von Sekunde zu Sekunde. Wir dachten schon daran zu gehen, als wir sahen, dass jemand einen Spaltbreit die Eingangstür öffnete. Eine ältere, klein gewachsene, zierliche Frau kam aus dem Haus. Vorsichtig stieg sie die wenigen Stufen hinab und kam auf uns mit fragenden Blicken zu. An der Ecke des Hauses, etwa zwei Meter vom Eingangstor entfernt, blieb sie stehen und fragte, ob sie uns helfen könnte. Ich war wie versteinert. Ich war mit dem ganzen Erscheinungsbild dieser Frau so beschäftigt, dass ich völlig auf eine Antwort vergaß. Patrick stupste mich ganz leicht an meinem Arm. »Ja, ich hoffe«, war alles, was ich herausbrachte.
Anfangs musste ich zweifellos den Eindruck hinterlassen haben, als wäre ich der deutschen Sprache nicht mächtig, denn ich gab nur wirres Zeug von mir. Keine zusammenhängenden, sinnvollen Sätze brachte ich aus mir heraus. Mir gingen einfach zu viele Dinge gleichzeitig durch den Kopf. Ich riss mich zusammen und versuchte mich zu konzentrieren. Ich entschuldigte mich zunächst für die Störung, stellte mich danach mit meinem Namen vor und schilderte ihr kurz, worum es ging. Sie kam die wenigen Schritte ans Tor, stieß einen tiefen Seufzer aus und meinte: »Du bist mein Patenkind. Es ist schön, dich zu sehen und zu sehen, dass es dir gut geht. Aber bitte nimm es mir nicht übel, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken läuft, wenn ich mit diesem Familiennamen konfrontiert werde.«
Ich war glücklich und bedrückt zugleich. Einerseits war da die Freude, meine Taufpatin kennenlernen zu dürfen, andererseits war da ihre Aussage, die mich traurig machte. In den darauf folgenden Minuten erzählte sie mir Schauderhaftes über meine Eltern. Meine Eltern wohnten mit uns Kindern in diesem alten Nebengebäude, meine Taufpatin war nichts anderes als ihre Vermieterin. Sie meinte, dass sie sich als Taufpatin freiwillig angeboten habe, damit zumindest gesichert war, dass sie mich auch taufen würden. Mein Vater
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