Rabenvieh (German Edition)
arbeitete als Hilfsarbeiter, meine Mutter war Hausfrau. Sie erzählte davon, dass meine Mutter ein Kind nach dem anderen bekam. Wenn mein Vater zur Arbeit ging, verließ auch sie sehr oft das Haus und ließ uns Kinder allein zurück. Ich war das fünfte Kind, das meine Mutter zur Welt brachte. Sie erzählte mir, dass mein Vater meine Geschwister bei ungenügendem Gehorsam sie mit Schlägen züchtigte. Immer wieder kam es vor, dass er meine Geschwister an den Tischbeinen befestigte und auf sie mit einem Gürtel einschlug.
»Du warst ein wenige Tage alter Säugling«, fuhr sie fort, »als ich dich eines Nachmittags endlos lange schreien hörte. Ich dachte mir, dass da etwas nicht in Ordnung wäre und klingelte bei deinen Eltern. Als mir niemand öffnete, ging ich einfach ins Haus. Das, was ich dort sah, veranlasste mich, die Polizei einzuschalten. Bei der Eingangstür bemerkte ich bereits, dass es übel roch und als ich weiter in den Wohnbereich vorging, sah ich wie all deine Geschwister an je einem Tischbein mit Gurten gefesselt lagen und leise vor sich hinweinten. Neben deinen Geschwistern im Gitterbettchen lagst du, nach wie vor laut schreiend. Ich nahm dich aus dem Bettchen und erkannte den eigentlichen Grund deines Schreiens. Deine Windel musste, seit du aus dem Krankenhaus mit deiner Mutter kamst, nicht mehr gewechselt worden sein. Du lagst im teils schon eingetrocknetem Kot und deine Windel war derart mit Urin durchnässt, dass diese bereits zu zerfallen begann. Ehe ich mich deiner Geschwister annahm, kümmerte ich mich um dich. Ich wollte dich frisch machen, und als ich sah, was sich unter dieser beinahe schon zerfallenen Windel abspielte, legte ich dich nochmals kurz in das Gitterbett, um einen Arzt rufen zu können. Du warst zwischen deinen Beinchen völlig wund und der Urin hatte dir deine Haut aufgezogen, dass es bereits Stellen gab, an denen du leicht blutetest.«
Sie sagte weiterhin, dass sie einen großen Fehler begangen hätte, indem sie meine Geschwister von den Tischbeinen befreite. Das war ein großer Fehler, beteuerte sie nochmals, denn als die Polizei kam und alles aufnahm, schenkte man ihr nicht so recht Glauben, dass meine Geschwister wimmernd an den Tischbeinen gefesselt lagen. Was hinzukam, dass meine Eltern dies bei späterer Einvernahme auch vehement bestritten, dass sie ihre Kinder auch nur ein einziges Mal gefesselt hätten. Der Arzt kam und veranlasste, dass ich gemeinsam mit zwei meiner Geschwister in das Krankenhaus gebracht wurde.
»Deine Eltern bekamen eine Anzeige wegen Vernachlässigung der Aufsichtspflicht, bekamen ab diesem Zeitpunkt eine Familienhelferin für einen Tag die Woche zur Seite gestellt, aber das war es dann auch schon«, meinte sie.
Patrick spürte, wie mich all das furchtbar traurig machte und griff nach meiner Hand.
»Hätte ich deine Geschwister bis zum Eintreffen der Polizei an den Tischbeinen gefesselt gelassen, wäre euch Kindern weiterhin einiges an Leid erspart geblieben, denn es dauerte schließlich noch viele Monate, bis die Behörden handelten«, fügte sie hinzu.
Sowohl ihrer Stimme als auch ihrem Blick entnahm ich, dass sie sich schuldig fühlte. Ich bat sie, sich nicht für etwas verantwortlich zu machen, für etwas, wofür sie nichts konnte. Sie beschwichtigte und winkte mit ihrer Hand ab und meinte, dass es ohnehin schon zu spät wäre. Wo meine Eltern nun wohnhaft wären, könne sie mir nicht sagen, denn der Kontakt verlor sich, als sie aus dem Haus vor vielen Jahren auszogen. Allerdings konnte sie mir eine Adresse nennen, an der sie vermutete, dass der Bruder meines Vaters, also meinen Onkel dort wohnhaft wäre. Sie beendete das Gespräch damit, dass sie mich bat, nach Möglichkeit nicht wieder zu kommen, da die Erinnerungen an meine Familie für sie sehr belastend wären und sie es einiges an Kraft kostete, sie überhaupt aus dem Haus zu bringen. Ich solle es nicht persönlich nehmen, wie sie meinte, aber sie könne nicht anders. Sie wünschte mir noch alles Gute, schüttelte Patrick und mir die Hand und wandte sich danach recht schnell von uns ab.
Ich verbuchte es als Teilerfolg, obwohl mir diese Informationen die ich soeben erhalten hatte, schon ziemlich zusetzten. Waren meine leiblichen Eltern von derselben üblen Sorte wie meine Pflegeeltern? Obwohl ich gerade die Bestätigung dafür bekam, wehrte ich mich vehement gegen diesen Gedanken. Ich konnte doch nicht gleich zweimal in meinem Leben ein derartiges Los gezogen haben. Ich ließ mich
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