Rabenvieh (German Edition)
gegenüber am Tisch und starrten uns gegenseitig betroffen in die Augen.
Bei unserem ersten Besuch fragte mich mein Onkel, an welchem Ort ich aufgewachsen sei. Ich gab ihm nur als Antwort, dass mich die Behörde in die Nähe von Graz brachte. Das, was mir dort widerfuhr, sprach ich mit keinem Wort an. Als sich das Schweigen wieder etwas gelegte hatte, fragte er mich, ob ich nicht etwas über meine Kindheit erzählen möchte. Es wäre neugierig und es interessiere ihn, in welche Familie ich gekommen sei und wie es mir dort ergangen wäre. Nein, das konnte und wollte ich ihm nicht antun. Und mir auch nicht. Ich konnte und wollte ihm nichts von diesem jahrelangen Martyrium erzählen. Allein schon aufgrund meiner Erkrankung der Nieren und der immer wiederkehrenden Krankenhausaufenthalte diesbezüglich, war ich schon gezwungen, mich immer wieder an den Ort des Grauens zurückzuerinnern. Nun wollte ich nicht auch noch darüber reden. Aber belügen wollte ich meinen Onkel schließlich auch nicht. Also erzählte ich ihm nur Allgemeines. Ich erzählte ihm, wie viele Kinder meine Pflegefamilie hatte, wo ich zur Schule gegangen war und dass ich meine Schwester ab und an besuchte. So versuchte ich mich irgendwie rauszumanövrieren.
Ich fühlte mich innerlich leer und ausgebrannt, deshalb drängte ich wenig später darauf, nach Hause fahren zu wollen. Mein Onkel und meine Tante baten uns noch zu bleiben, aber ich konnte nicht mehr. Zu müde und leer fühlte ich mich und ganz abgesehen davon, musste ich damit rechnen, dass mein Onkel noch weitere Fragen über meine Pflegefamilie stellen würde.
Es verstrichen seit unserem letzten Besuch bei meinem Onkel und meiner Tante einige Wochen, aber das Thema Eltern war nach wie vor für mich nicht vom Tisch. Patrick riet mir mittlerweile davon ab, denn er wusste, dass es mich stark belasten würde, meine Eltern aufzusuchen und mir möglicherweise die Bestätigung dafür zu holen, was andere über meine Eltern aussagten. Andererseits verstand er mich auch, dass ich das, was ich begonnen hatte, zu Ende bringen wollte. Nach wochenlangen Überlegungen setzte ich schließlich mein Vorhaben weiter fort. Obwohl mir Patrick davon abriet, stand er mir auch diesmal wieder zur Seite.
Wir bekamen die Adresse meiner Eltern, die mittlerweile getrennt lebten, von meinem Onkel. Es war an einem frühsommerlichen Nachmittag, als wir uns zu dieser Adresse aufmachten. Unter dieser Anschrift fanden wir ein Doppelwohnhaus. Wir standen am Tor dieses Wohnhauses und blickten auf die Haussprechanlage, um nach dem Namen meines Vaters zu suchen. Ich läutete. Unmittelbar danach öffnete sich im ersten Stock dieses Hauses ein Fenster. Eine Frau lehnte sich aus dem Fenster und fragte nach dem Wunsch. Ich fragte sie, ob dieser Mann, den ich nannte, hier wohnhaft wäre. Sie bejahte meine Frage und fragte, was ich von ihm wolle. Ich antwortete, dass es eine private Angelegenheit wäre, und bat sie, ihm zu sagen, dass jemand am Tor auf ihn warten würde. Es war schon ein sonderbares Gefühl, dass ich in Kürze das erste Mal in meinem Leben meinem Vater gegenüberstehen würde. Ich versuchte so gut es ging ruhig zu bleiben.
Ein groß gewachsener, kräftiger Mann mit dunklen, schütteren Haaren bog Minuten später um die Hausecke und kam in Richtung Tor. Zugegeben, ich hatte mir meinen Vater anders vorgestellt und mit meinem Onkel hatte er optisch auch nicht viel gemein, aber das war nun nicht mehr von Wichtigkeit. Ich fragte ihn nach der Person, die ich suchte und ob er das wäre. Er bejahte diese Frage und fragte mich, was der Grund unseres Besuches wäre. Ohne lange drum herum zu reden, gab ich ihm als Antwort, dass ich seine Tochter sei. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er abwechselnd Patrick und mich an. Er hinterfragte Details und als er sich sicher war, rief er nach Hannelore, seiner Lebensgefährtin, die den Schlüssel für das Tor aus dem Fenster werfen sollte. Es war jene Frau, mit der ich mich wenige Minuten zuvor am Fenster unterhalten hatte. Mein Vater öffnete das Tor, schüttelte uns die Hand und bat uns ins Haus. Er bot uns in der Küche einen Sitzplatz sowie Speisen und Getränke an. Die Stimmung war irgendwie ganz seltsam. Ich wusste nicht recht, ob sich mein Vater wirklich freute, mich zu sehen. Das Gespräch stockte anfangs etwas. Ich wusste nicht recht, was ich sagen sollte. Sollte ich gleich damit beginnen, ihm Vorhaltungen zu machen, warum er und meine Mutter uns Kinder verwahrlosen ließen,
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