Rabenzauber
fragte Hennea. »Was treibt ihn an?«
Das war schon schwieriger. »Ich weiß es nicht«, sagte Seraph schließlich. »Ich bin nicht dazu in der Lage, einen Mann auf eine Handvoll Worte zu reduzieren.« Sie wandte sich ihrer Jüngsten zu, die ihn am besten kannte.
»Rinnie«, sagte sie in der Allgemeinen Sprache. »Wenn Onkel Bandor alles auf der Welt haben könnte, was würde er wählen?«
»Kinder«, antwortete Rinnie sofort, obwohl ihre Stimme zitterte. »Er und Tante Alinath wünschen sich Kinder mehr als alles andere. Er macht sich auch Gedanken, dass Papa vielleicht in die Bäckerei zurückkehren könnte. Letztes Jahr, als die Ernten nicht gut waren, war er sicher, dass Papa die Bäckerei wieder übernehmen wollte. Nichts, was Papa sagte, konnte ihn beruhigen.«
Jetzt erinnerte sich Seraph daran; es war ihr damals nicht wichtig vorgekommen.
Eine der Ranken von Henneas Magie erfasste etwas und wurde straff wie das Netz eines Fischers. Eine weitere glitt an den gleichen Platz und erstarrte ebenfalls. Eine dritte erfasste etwas an einer anderen Stelle.
»Mehr«, sagte Hennea. »Erzähl mir mehr von ihm, Kind.«
»Er liebt Tante Alinath«, sagte Rinnie nun selbstsicherer. »Aber er macht sich Gedanken, dass sie Papa lieber mag. Er will, dass sie ihn für einen besseren Mann als Papa hält.«
Der Rest der Ranken versteifte sich wie die Saiten einer Geige, und sie gaben Laute von sich, als ob ein unsichtbarer Musiker an dem Instrument zupfte.
»Neid«, murmelte Hennea in der Sprache der Reisenden. »Kleine Dunkelheiten, die dem Schatten erlauben, ihn zu erfassen und ein bisschen zu schütteln, bis die kleine Dunkelheit wie ein Fleck auf seiner Seele wächst. Du wirst sie alle herausfinden müssen, Seraph, und keine darf dir entgehen. Ist es möglich, dass dein Jäger etwas sieht?«
»Lehr«, sagte Seraph, »komm und sieh dir das an. Umschließt das Netz, das sie gewoben hat, den Makel?«
Lehr sah seinen Onkel sehr genau an. »Nicht ganz«, sagte er.
»Er wünscht«, murmelte Seraph. »Er liebt. Er hasst. Er fürchtet.«
»Er hat Angst vor dir, Mutter«, sagte Rinnie schließlich. »Und Jes mag er auch nicht besonders.« Sie warf einen entschuldigenden Blick zum Rücken ihres Bruders. »Er ist nicht gerne in der Nähe von Leuten, die so seltsam sind wie Jes.«
Hennea, auf deren Gesicht sich die Anstrengung deutlich abzeichnete, entsandte mehr Magie.
»Das ist alles«, sagte Lehr.
»Mutter«, rief Jes.
Seraph drehte sich um und sah, dass Alinath nicht mehr allein in der Tür stand. Karadoc war bei ihr. Es war ihm gelungen, ein paar Schritte vorwärts zu machen, sich in den Raum zu drängen, aber als Jes ihn ansah, blieb er wieder stehen.
»Wir sind gleich fertig«, sagte Hennea. »Ich würde das hier ohne jemanden, der den Schatten sehen kann, nicht riskieren. Ansonsten kann man zu leicht etwas falsch machen - und man erfährt es erst, wenn der Umschattete alle umbringt, die ihm am nächsten stehen.«
»Wie der namenlose König, der Schatten«, meinte Seraph. »Als er als Erstes seine Söhne tötete.«
»Er erlaubte keine Reisenden in seinem Reich«, sagte Hennea. »Also gehen wir jetzt dorthin, wo wir gebraucht werden, nicht dorthin, wo man uns will.«
»Was geschieht als Nächstes?«, fragte Seraph.
Hennea lächelte müde. »Der letzte Teil ist mehr Kraft als Feinarbeit. Ich werde versuchen, den Schatten aus ihm herauszubrennen.«
»Lass mich helfen«, sagte Seraph. »Ich bin ziemlich aufgebraucht, aber du kannst gern alle Magie haben, die mir noch
geblieben ist.« Sie folgte ihren Worten mit Taten, legte das blutige Messer auf den Boden und ließ die Hände auf Henneas Schultern ruhen.
Hennea dankte ihr mit einem Nicken und begann, die Haken zu zerstören, die der Pirschgänger in Bandors Seele gebohrt hatte. Seraph sah, dass es ganz ähnlich funktionierte, wie wenn sie auf magische Weise Holz verbrannte - Hennea nutzte nur einen anderen Brennstoff. Wenn sie es einmal selbst tun müsste, würde sie wissen, wie es vonstattenging.
»Fertig«, sagte Hennea, aber Seraph, die gespürt hatte, wie die letzte Umschattung gewichen war, war bereits zurückgetreten.
Bandor hatte schon lange aufgehört, sich zu wehren, aber jetzt hing er vollkommen schlaff in den Fesseln, die ihn an der Wand hielten, das Gesicht ausdruckslos, der Mund schief. Ein Tropfen Speichel fiel ihm vom Kinn.
»Lehr«, sagte Seraph, »hilf mir mit Bandor.«
Lehr half seiner Mutter, den Bäcker zu stützen, sodass Hennea die
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