Rabenzauber
»Ich kann dich nicht umbringen, Lehr. Der Meister hat recht. Seraph würde nie mit ihm zusammenarbeiten, wenn wir ihrem Sohn wehtäten. Und der Kaiser könnte ebenfalls nützlich sein. Also darf ich auch den Kaiser nicht umbringen.«
So schnell, wie eine Schlange zustößt, schnitt Ielian Rufort die Kehle durch. Blut spritzte, und Ielian sprang mit erregtem Lachen zurück. Rufort blieb noch einen Moment stehen und blutete mit jedem Herzschlag mehr aus. Schließlich fiel er nach vorn in seine Blutlache auf dem Kopfsteinpflaster.
Ielian hockte sich neben die Leiche. »Wie hat sich das angefühlt, Rufort? Bist du dir hilflos vorgekommen? Hast du gespürt, dass der Tod näher kam? Oder warst du in Unglauben versunken?« Er blickte auf und sah Phoran in die Augen. »Ich hätte jeden von Euch tausendmal umbringen können, Kaiser. Das macht mich zu einem wirklich mächtigen Mann. Mächtiger, als Ihr jemals sein könntet. Wisst Ihr, was es bedeutet, das Leben eines Menschen in der Hand zu halten?« Er streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern durch Ruforts Haar. »Niemand wird ihn jemals mehr lieben, als ich ihn im Augenblick seines Todes geliebt habe. Wie könnte ich jemanden, der mir solches Vergnügen verschafft, nicht lieben? Habt Ihr gesehen, wie er dastand, aufrecht bis zum Tod wie ein Soldat?« Er schauderte bei der Erinnerung vor Erregung, wie es ein Mann tun mochte, der sich an eine besonders gute Hure erinnerte.
Dann stand er auf, schüttelte diese seltsame Aura von Intensität ab und wirkte wieder ruhig und kompetent. »Ich sollte lieber gehen. Der Meister erwartet mich.« Wieder ging er an Phoran vorbei. »Hier«, sagte er. »Warum hältst du das nicht für
mich fest? Ich lasse es drin, damit die Wunde langsamer blutet. Vielleicht wird der Bann des Meisters ja vergehen, bevor du verblutest.«
Kissel oder Toarsen, dachte Phoran. Ielian hatte einem der beiden sein Messer in die Brust gerammt. Phoran strengte sich mehr an als in seinem ganzen Leben, aber er konnte nicht einmal eine Fingerspitze bewegen.
Ielian erschien wieder, und jetzt war sein Hemd noch blutiger. Er hatte sich die schlaffe Rinnie über eine Schulter geworfen und sah so gelassen aus wie Hennea. Als er davonschlenderte, pfiff er leise eins der Lieder vor sich hin, die Tier in der vergangenen Nacht gesungen hatte.
19
» N ein«, sagte Hennea, »Ich spüre gar nichts. Was ist denn?«
»Der Schatten ist hier«, sagte Hinnum. »Ich erkenne die Magie meines Lehrlings.«
Tiers Hände an Seraphs Schultern wurden starr. »Hier? In Colossae?«
Hinnum nickte und warf Hennea einen Blick zu. »Ich kann gegen die Macht des Zerstörers nichts ausrichten, nicht bei einem Mann, der sie schon seit zweihundert Jahren besitzt. Ich kann dir nur Zeit zur Flucht verschaffen, Herrin, aber du musst weit und schnell laufen. Finde deine sechs Weisungen und vernichte dieses Ungeheuer, an dessen Schöpfung ich selbst beteiligt war.«
»Wir können nicht ohne Rinnie und die Jungen gehen«, erklärte Seraph entschieden.
Hinnum warf ihr einen Blick zu und blickte zur Stadt hin, wo sich eine Gruppe tief hängender Wolken bildete. »Er hat sie schon«, sagte er leise. »Ihr könnt nichts dagegen tun. Ein Falke und ein Kormoran haben keine Macht gegen ihn. Ebenso wenig wie zwei Raben, ein Barde und ein Adler. Selbst wenn eine von euch einmal eine Göttin war, selbst wenn ich euch so gut ich kann unterstütze. Ich sage euch, ich habe schon öfter gesehen, wie mächtig ein Schatten werden kann. Wäre der namenlose König nicht verrückt gewesen, hätten der Rote Ernave und Kerine ihn niemals umbringen können. Und dieser Schatten
ist nicht der namenlose König. Ich werde mein Bestes tun, um ihn aufzuhalten, aber ihr müsst fliehen.«
Seraph schloss die Hand um den Tigeraugenring. »Wir brauchen eine Lerche«, sagte sie. »Ich habe hier eine. Meine Tochter oder auch jede andere Reisende, der diese Weisung einmal gehörte, hätte ihr Leben gegeben, um den Schatten zu vernichten. Wenn ihr meinen Kindern helfen wollt, sollten wir das jetzt tun.«
Phoran stand in hilflosem, hoffnungslosem Zorn wie eine Statue da. Er hatte Seraph versprochen , dass ihrer Tochter nichts geschehen würde! Als Kaiser sollte er seine Versprechen halten - aber Willons Bann hielt ihn davon ab.
Willon war ein Illusionist. Was hatte er gesagt? Tier konnte seine Illusionen durchschauen. Meinte er damit, dass sein Bann Tier nicht hätte halten können? War dieser Bann also ebenfalls eine
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