Rabinovici, Doron
Brüder.«
Es war mit einemmal, als
würden die Besucher und nicht er von Halluzinationen heimgesucht. Sie schauten
den Fremden an wie ein Gespenst. Jaffa starrte ihn mit offenem Mund an. Ihr
Mann zuckte die Achseln. Onkel Jossef blickte noch stumpfer als sonst. Nur der
Jüngste, Schmuel, strahlte. Jede seiner Sommersprossen blühte auf. Er lehnte
nicht mehr an der Wand, die Arme an den Rumpf gepreßt, die Hände in den Taschen
vergraben, sondern richtete sich auf, seine ganze Gestalt gewann an Größe. Er
musterte Rudi, als wäre er eines jener wundersamen Phänomene, die ihm in Indien
begegnet sein mochten, ein Yogi etwa, der sich seit zwanzig Jahren nur von
Wasser ernährte, rückwärts ging und keinen Tag begann, ohne drei Pfeilspitzen
durch seine beiden Wangen zu bohren. Schmuel war begeistert. Die Tante aber
atmete mit aufgesperrtem Mund, als wolle sie einen Spiegel beschlagen. Es
dauerte eine Minute, bis sie doch wieder zur Sprache fand, um nur ein Wort
hervorzupressen: »Ojwej.«
Felix schaute wieder zur
Decke, entrückt, als ginge ihn das Ganze nichts an. Ethan wußte nicht, was er sagen
sollte. War es nicht an Vater oder an Rudi, den Mund aufzumachen? Die beiden
aber schwiegen.
Rudi starrte ins Leere. Er
kannte hier niemanden. Was sollte er sagen? Seine Mutter war tot. Nie hatte es
zwischen ihnen eine Nähe gegeben, wie er sie hier, in diesem Krankenzimmer,
spürte. Früh hatte sie ihn zu einer Pflegefamilie nach Tirol gebracht und dort
in ein Internat gesteckt. Er war fern von ihr aufgewachsen. Seine Tiroler
Zieheltern, knorrige Bergmenschen, hatten ihn geliebt, aber wie einen Marsianer.
Sie staunten, wie sehr er einer von ihnen geworden war, doch in Wahrheit barg
ebendiese Anerkennung das Bekenntnis, daß er nie wirklich zu ihnen gehören
würde. Und daß er ihnen so dankbar dafür war, wie liebevoll sie ihn aufgenommen
hatten, bewies, wie fremd er ihnen geblieben war. Dann hörte er Tante Rachel
murmeln: »Kennt ihr Dina nicht? Sie wird ihn umbringen. Ihre Niere hat sie ihm
gegeben!«
In diesem Augenblick ging ein
Ruck durch Felix, und er stöhnte: »Dina!« Niemand blickte in die Richtung, in die
er sprach. Sie dachten, er reagiere auf Rachels Einwurf mit einer seiner
Phantasien, doch schon rauschte sie herein. Sie umarmte Jaffa, streifte mit
ihrem Ohr Nimrods Wange, preßte Schmuel an sich, drückte Rachel und Jossef ein
Bussi auf und ließ sich von Ethan küssen. »Seht, wer heute alles hier ist!« Sie
sah Rudi.
Alle im Raum hielten den Atem
an.
Sie bemerkte das Zögern,
sagte: »Schön, dich zu sehen, Rudi, mein Lieber« und drehte sich blitzschnell
zu den anderen. Sie bitte nun die Verwandten zu gehen. Sofort. Felix brauche
Ruhe. Soviel Besuch auf einmal sei zuviel für ihn. Sie werde sich am nächsten
Tag bei allen melden. Versprochen. Und als Rachel widersprechen wollte,
herrschte Dina sie an: »Raus jetzt, meine Liebe! Verstanden? Hopp hopp. Das
ist ein Spital, kein Kaffeehaus.«
Es war ein Befehl. Alle
drängten hinaus, winkten Felix noch einmal zu.
Erst als die Tür hinter ihnen
ins Schloß gefallen war, wandte sie sich um und musterte Rudi von oben bis unten:
»Ihr seid euch ähnlicher, als ich dachte. Unverkennbar Brüder.« Sie dürfe ihn
doch Rudi nennen. Und er solle Ima zu ihr sagen. Ein Sohn von Felix sei auch
ihr Sohn. Sie ging auf ihn zu und streckte ihm die Arme entgegen.
Er danke ihr, brachte Rudi
hervor.
Dina sah ihn von unten her an.
»Was hast du denn gedacht ...« Sie atmete durch: »Felix und ich haben uns immer
ein zweites Kind gewünscht. Vergeblich. Es ist nun wichtig, zusammenzuhalten,
damit Felix gesund wird.«
Der Vater schaute zur Decke,
als gehe ihn das Gespräch gar nichts an. Er folgte den Bildern und Szenen, die
sich über seinem Kopf abspielten. Die Mutter und Rudi hingegen hatten einander
fest im Blick. Ein Doppelpack an unerbittlicher Freude. Ethan stand abseits und
sah zu, wie die eigene Familie ihm fremd wurde.
6
Von einem Tag zum anderen waren
die Schmerzen beinahe verschwunden. Es blieb ein Nachhall im Rücken. Ein
bamstiges Weh, die Erinnerung an das Glühende, das sein Kreuz zerfleischt
hatte. Die Ärzte wußten nicht, woher die Linderung kam. Sie hatten nicht
herausgefunden, was in ihm vorgegangen war, und nun begriffen sie nicht, wieso
er nicht mehr daran litt. An seiner eigentlichen Krankheit hatte sich nichts
geändert. Er mußte weiterhin zur Dialyse, und ohne Transplantation würde er
nicht mehr lange leben.
Die Trugbilder
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