Rache - 01 - Im Herzen die Rache
nicht der richtige Zeitpunkt, um näher auf die Geschichte mit Chase und diesem geheimnisvollen Mädchen einzugehen.
»Okay, Süße.« Er lehnte sich hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »War schön heute Nachmittag.«
»Bis morgen, oder?«, fragte sie, als sie die Tür öffnete.
»Du sagst es«, antwortete er und lächelte.
Manchmal schien er so unheimlich selbstvergessen. Als würde ihn das immense Ausmaß der Situation gar nicht tangieren.
Em schaute ihm zusammen mit Chase nach, als er davonbrauste.
»Komm rein«, sagte Em. »Das nächste Gedicht ist … ich muss irgendwie noch ein bisschen daran feilen.«
Chase folgte ihr wortlos ins Haus. Er hing seinen Mantel neben ihren, band sich die Schuhe auf und platzierte sie ordentlich neben der Bank in der Diele.
»’ne Menge Salz auf den Straßen«, sagte er. »Das will ich euch nicht ins ganze Haus tragen.«
Em hatte Chase noch nie so blass gesehen. Er saß schüchtern auf einem Stuhl in der Küche und sah aus, als wisse er nicht, wohin mit seinen Händen. Sein verknittertes altes Sweatshirt war am Kragen ganz ausgefranst und hatte Flecken am Bund. Seine Jeans war am Knie zerrissen und unter den Augen hatte er dunkle Ringe. Chase Singer, der so viel Wert auf ein tadelloses Äußeres legte wie sonst kaum jemand, lief plötzlich im Penner-Look rum? Das war neu. Aber es war nicht nur seine Klamottenwahl. Chase sah mitgenommen aus, so als hätte er seit Tagen kein Auge mehr zugetan. Em wartete auf sein übliches angeberisches Gehabe, irgendeinen großkotzigen Spruch. Doch es kam nichts.
»Magst du eine heiße Schokolade? Ich könnte eine machen, während du schreibst«, schlug Chase vor.
»Heiße Schokolade? Klar. Klingt gut.« Chase Singer bot an, etwas Nettes zu tun? Seltsamer konnte der Tag nicht mehr werden. »Danke, Chase.«
Als ihr Laptop erst einmal aufgeklappt war, kamen die Gedanken wie von allein und flossen auf die Seite. Ihre ganze Verwirrung wegen Zach, wegen seiner Gefühle für sie und ihrer für ihn, alles strömte ihr aus den Fingerspitzen. Sie schrieb schnell, schlug wild auf die Tasten, während Chase am Herd herumhantierte, Milch warm machte und in den Küchenschränken nach Zimt und Cayennepfeffer suchte.
Es war beinahe, als wären ihre Finger und ihr Hirn von irgendetwas ferngesteuert, so frei und leicht kamen ihr die Worte. Und obwohl in dem Gedicht keine Namen genannt wurden und weder »er« noch »ihm« vorkam – damit Chase es auch verwenden konnte –, basierte es eindeutig auf ihren eigenen Erlebnissen, wodurch es real wirkte. Ausdrucksstark. Tief in ihrem Inneren spürte Em, dass es ein gutes Gedicht war, noch besser als das erste. Sie würde es »Unaufhaltsam« nennen.
»Manchmal habe ich das Gefühl, Ty könnte jeden Moment von der Bildfläche verschwinden.« Chase stand hinter ihr, sah ihr beim Schreiben über die Schulter und hielt eine dampfende Tasse Kakao in der Hand. Es roch köstlich.
»Wer ist denn – oh. Ty?« Em wollte nicht indiskret sein. Entweder erzählte er es ihr oder nicht. Sie kannte das Gefühl, Herzensangelegenheiten lieber für sich behalten zu wollen. Zu wissen, dass sie sich, wenn man erst einmal laut darüber sprach, plötzlich in Luft auflösen konnten oder vielleicht noch komplizierter wurden.
»Ja, Ty. Das letzte Gedicht hat ihr super gefallen. Danke.« Chase rührte geistesabwesend in seinem Kakao, während Em einen Ausdruck von dem neuen Gedicht machte und ihn aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters holte. Sie sah zu, wie Chase ein paar Bücher aus seinem Rucksack nahm. Er legte das Blatt Papier zwischen zwei davon und verstaute alles wieder. »Damit ich es auch nicht verliere«, sagte er verlegen.
»Du magst sie wirklich, nicht wahr?«, platzte es aus Em heraus.
Einen Augenblick lang blickte Chase sie argwöhnisch an und Em sah etwas von seinem üblichen Imponiergehabe und seiner Abwehrhaltung durchschimmern. Doch dann schien sein Gesichtsausdruck zu kippen und er zuckte nur mit den Schultern. »Vielen Dank, Winters. Soll ich dir noch helfen, die Tassen zu spülen?«
Sie winkte ab. »Ich bin Expertin im Spülmaschinenbeladen, mach dir keine Gedanken!«, scherzte sie. Chase grinste sie kurz an und hielt sich zwei Finger an die Stirn, ein altmodischer Ehrengruß. Sie brachte ihn noch zur Haustür und schloss hinter ihm ab.
Anschließend ging sie zurück in die Küche, setzte sich hin und holte tief Luft. Drehte ein paarmal den Kopf hin und her und streckte sich. In dem Moment sah sie
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