Rache - 01 - Im Herzen die Rache
Chases Football-Playbook auf der Küchentheke liegen – die größte Überraschung von allen, die Chase an diesem Nachmittag gebracht hatte. Em konnte gar nicht fassen, dass er es wirklich vergessen hatte. Sie rannte zur Haustür und riss sie auf, um ihm nachzurufen. Doch er war schon weg; der Vorgarten war still und dunkel. Sie wollte gerade die Tür schließen, als der helle Klang eines weiblichen Lachens an ihr Ohr drang. Ganz schwach nur, und doch irgendwie nah. Sie streckte den Kopf weiter hinaus, um zu sehen, woher das Geräusch wohl kam. Doch da war es schon nicht mehr zu hören. Und alles, was sie sehen konnte, waren drei pechschwarze Krähen, die am Himmel ihre Kreise zogen. Sie sahen düster und bedrohlich aus und Em knallte bei ihrem Anblick die Tür mit ganz besonderer Wucht zu.
Zum Abendessen gab es Hühnchen mit gegrillten Tomaten. Ihre Eltern verbrachten praktisch die ganze Zeit damit, darüber zu diskutieren, warum Em nächstes Jahr besser den College-Vorbereitungskurs in Bio statt in Ökologie belegen sollte, ohne dass sie selbst großartig an dem Gespräch teilnahm. Anschließend beschloss sie, einen Spaziergang zu machen. »Ich brauche bloß ein bisschen frische Luft«, erklärte sie ihrer Mom, die gerade dabei war, die Spülmaschine einzuräumen und dabei vor sich hin summte.
Das war alles so verwirrend. Zach und Gabby. Ihr Streit mit JD. Wie ernst und versteinert Chase heute ausgesehen hatte. Die Arme fest um den Körper geschlungen, ihre Mütze tief über die Ohren gezogen, spazierte sie die Straße hinunter. Die Nacht war ganz still und ihre Schritte verhallten in den Wiesen und Wäldern, die die Straße säumten. Sie dachte an Zachs Schneepflug und Gabbys Lockenstab und Chases Playbook …
Und ehe sie es sich versah, war sie bei dem kleinen Spielplatz am Ende der Straße, den sich ein paar benachbarte Familien teilten und auf dem es außer einer Rutsche, einer Schaukel und einer hölzernen Wippe nichts weiter gab. Em schwenkte das knarrende Tor auf, schlenderte auf die menschenleere kleine Anlage und dachte daran, wie sie und JD hier vor langer Zeit immer gespielt hatten. Jetzt wirkte alles so klein, so wenig benutzt. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass sie den Ort früher einmal für ungeheuer groß und aufregend gehalten hatte.
Sie setzte sich auf eine der Schaukeln. Noch immer quietschte die Kette bei jeder Bewegung. Wenigstens einige Dinge hatten sich nicht geändert. Lustlos holte sie ein bisschen Schwung, ließ sich von der kalten Luft, die sogar durch den Mantel drang, abkühlen und hoffte, dadurch einen klaren Kopf zu bekommen, hoffte, es würde ihr helfen, dieses Gefühl loszurütteln, das ihr in Brust und Hals festsaß.
War so etwa die Liebe? Kompliziert, schmerzvoll, chaotisch? Warum konnte das Leben nicht einfach wieder so sein wie früher, als das größte Problem darin bestand, wer zuerst rutschen durfte? Sie seufzte und blickte hinauf zu den Sternen, während sie die Hände fröstelnd in den Manteltaschen vergrub.
Ganz tief unten streiften ihre Finger ein Stück zusammengefaltetes Papier. Sie zog es heraus und sah, dass ihr Name auf der Außenseite stand, kannte jedoch die Handschrift nicht, mit der er geschrieben war. Sie faltete das Blatt auseinander, und während sie die Worte entzifferte, wurde ihre Atmung immer flacher.
Reue ist manchmal nicht genug.
Em machte einen Satz von der Schaukel und wirbelte auf dem verlassenen dunklen Spielplatz im Kreis herum, wieder und wieder. Einen Moment lang dachte sie, sie hätte etwas Weißes hinter der Wippe aufblitzen sehen.
In heller Panik stürzte sie, ohne noch eine Sekunde länger zu zögern, zum Tor. Wie lange war dieser Zettel wohl schon in ihrer Tasche gewesen? Wer hatte ihn da hineingetan? Reue ist manchmal nicht genug. Die Worte schwirrten ihr im Kopf herum.
Sie wurde das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete, ihr folgte, genau in diesem Augenblick. Ihr Herz hämmerte wie wild, als sie den Rest des Weges zurück zu ihrem Haus rannte, in dem Bewusstsein, dass sie sich selbst dort drin nicht sicher fühlen würde.
Reue ist manchmal nicht genug. Sie wusste nicht, was der Satz bedeutete. Nicht wirklich jedenfalls. Doch die dunkle Kälte, die sie tief in der Magengrube spürte, sagte ihr, dass er stimmte.
Kapitel 12
Das Basketballspiel auf dem zugefrorenen See war schon in vollem Gang, als Chase am Freitagnachmittag am Galvin’s Pond aufkreuzte. Dort trafen die Jungs sich jedes Jahr in den
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