Rache - 01 - Im Herzen die Rache
anhören musste. »Entschuldigung!«
Sie hatte gerade erst die Tür erreicht, da ertönte schon das Signal zur Abfahrt: Bitte zurückbleiben. Türen schließen. Sie schlüpfte schnell hindurch, während die Tür langsam zuglitt. Doch sie schaffte es nicht ganz nach draußen. Ihre große Schultertasche blieb zwischen den sich schließenden Türflügeln hängen – und ihr Arm hing noch in ihrem Riemen.
Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, musste Em immer schneller und schneller nebenherlaufen; Panik stieg in ihr hoch, während sie wie wild versuchte, ihren Arm zu befreien.
»Halt! Halt!«, rief sie und die Leute gaben ihr von innen Zeichen, als wollten sie ihr etwas Wichtiges mitteilen. Aber der Zug wurde nicht langsamer. Als er schließlich so sehr beschleunigte, dass sie nicht mehr mithalten konnte, stolperte sie. Sie stürzte auf die Knie und zerrte dabei ihren Arm aus dem Schulterriemen. Und dann sah sie ihre Tasche, den Zug und das Mädchen im Dunkel des Tunnels verschwinden.
Em kam zitternd auf die Beine. Sie begann zu schluchzen. Sie saß fest, ohne Tasche, ohne Handy, ohne Geldbörse … Und hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Wenigstens war sie schon am Central Square – nur eine Station vom Harvard Square entfernt, wo sie mit JD verabredet war. Sie wollte nicht riskieren, noch einmal mit der T zu fahren, also machte sie sich auf den Weg hinauf zur Straße. Sie würde zu Fuß entlang der Massachusetts Avenue Richtung Westen gehen. Zum Glück gab es eine direkte Verbindung zwischen Central und Harvard Square. Den Massen von Leuten nach zu urteilen, die sich hier unten bereits drängten, würde sie oben auf der Straße allerdings garantiert das absolute Chaos erwarten.
Es hatte den Anschein, als nutzten sämtliche Bewohner Bostons das gute Wetter aus. Mass Ave war das reinste Irrenhaus, und als sie näher kam, erkannte sie, dass auch der Harvard Square mit Studenten, Gauklern, Touristen, Schaufensterbummlern, Betrunkenen und öffentlich herumknutschenden Paaren vollgestopft war. Straßenverkäufer säumten den tiefer liegenden Bereich neben dem Zeitungsstand, von den Bostonern nur Pit genannt, wo Artisten einen Feuertanz aufführten. Sie schaute sich ängstlich um. JD hatte ihr nicht genau gesagt, wo sie sich treffen wollten. Sie hatten vereinbart zu simsen, sobald sie auf dem Platz eintraf.
Sie musste ein Münztelefon finden – gab es so was überhaupt noch? Sie lief ein paarmal um den ganzen Platz, bevor sie in eine mit Kneipen gesäumte Straße abbog. Wenn alle Stricke rissen, würde sie einfach jemand Fremden bitten, ihr sein Handy zu leihen. Sie musste an ihre Eltern denken und wie besorgt die jetzt wären, wenn sie wüssten, in welche Situation sie geraten war.
Und dann fiel ihr Blick auf einen der Kunsthandwerkerstände, wo eine Frau grob gestrickte Zopfmusterpullover verkaufte – irisch und mollig –, so wie der, den Zach neulich hochgehalten hatte. Und sie hatte das Gefühl, ihr würde gleich das Herz brechen.
»Du hast etwas verloren«, hörte sie hinter sich jemanden sagen. Sie wirbelte herum und da stand es. Das Mädchen. Immer noch mit diesem bizarren Lächeln im Gesicht. Es hielt Ems Tasche in der Hand, mit der roten Orchidee daran. Das ergab einfach keinen Sinn – Em erinnerte sich genau, dass sie die Blume abgenommen und auf die Schienen geworfen hatte. Ihr ganzer Körper erstarrte.
»Was willst du von mir?«, fragte sie mit erstickter Stimme.
Das Lächeln des Mädchens wurde noch breiter, bis es sich über sein ganzes Gesicht zu erstrecken schien. »Bloß meinen Job als gute Samariterin erledigen«, erwiderte es und hielt immer noch die Tasche in die Höhe.
»Lass mich in Ruhe.« Em riss sie dem Mädchen aus der Hand. Ihre Stimme klang schrill, hysterisch. »Verstanden? Hörst du? Lass. Mich. In Ruhe.« Dann drehte sie sich um und rannte durch die Menge davon.
Es war wie in einem Irrgarten oder in einem grässlichen Gruselkabinett. Laut, grell, verzerrt und schauerlich. Em hastete in diese und in jene Richtung und durchwühlte im Laufen die Tasche auf der Suche nach ihrem Handy. Nachdem sie es endlich gefunden hatte, las sie die Nachricht, die JD ihr geschickt hatte: Wir treffen uns vor dem Au Eon Pain. Alles klar. Sie kannte den Weg dahin. Sie holte tief Luft und konzentrierte sich darauf, ihre Schritte zu verlangsamen, rannte aber immer noch, als hätte der Boden unter ihren Füßen Feuer gefangen. Als sie die Straße zwischen Pit und dem Au Bon Pain
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