Rache - 01 - Im Herzen die Rache
anderer Freunde hatte Em ignoriert, wie schon die ganzen Ferien über – inzwischen mussten sie wissen, dass etwas vorgefallen war –, und die einzige SMS von Zach, ein jämmerliches, wehleidiges Hi?, hatte sie wohlweislich gelöscht.
JD war Melissa bei einem Teenager-Babysitter losgeworden, hatte seinen Filmemacher-Freunden erzählt, er sei auf dem Weg nach Beantown, und hatte den Frühzug genommen, um mit seiner Tante Sophie zu brunchen. Em war ihr schon ein paarmal begegnet. Sophie Downs hatte nie geheiratet, war superintelligent und besaß einen antiken Schreibtisch mit Blick über die dicht an dicht stehenden Sandsteinhäuser von Beacon Hill. Manchmal dachte Em, sie hätte mehr Gemeinsamkeiten mit Tante Sophie als mit ihrer eigenen Verwandtschaft.
Sie und JD hatten ausgemacht, sich um sieben am Harvard Square zu treffen; die Zugfahrt würde ungefähr zwei Stunden dauern, voraussichtliche Ankunft am Nordbahnhof gegen halb vier. Sie hätte also noch genug Zeit für einen Zwischenstopp bei Maintenance, um ein hübsches Geschenk für Gabs auszusuchen.
Em setzte sich aufrecht hin, klappte das Tagebuch zu und verstaute es wieder in ihrer Tasche. Sie würde später etwas schreiben, wenn sie erst einmal die Gelegenheit gehabt hatte, ihre Gedanken zu ordnen. Plötzlich meinte sie aus dem Augenwinkel zu erkennen, dass jemand sie anstarrte, und als sie sich umwandte, musste sie nach Luft schnappen.
Schräg gegenüber saß ein blondes Mädchen, das dem, das ihr im Traum oder als Halluzination oder sonst wie erschienen war, auffallend – ja fast schon unheimlich – ähnlich sah. Dem Mädchen, das sie in ihrer und JDs Scheibe gesehen hatte. Als Em merkte, dass ihr vor Staunen der Mund offen stand, lächelte sie es flüchtig an und drehte sich rasch wieder weg. Das musste ein Zufall sein.
»Mir gefällt deine Tasche.« Plötzlich stand das Mädchen vor ihr. »Und die Blume.«
Em hatte die rote Orchidee vor ein paar Tagen an ihre Tasche gesteckt – nach dem Kuschelnachmittag in Zachs Bett. Und nicht einmal nach ihrem schlimmen Krach hatte sie es übers Herz gebracht, sich davon zu trennen. Sie musste sie beinahe schon behalten, auch wenn sie wusste, dass Zach seine Spielchen mit ihr getrieben hatte. Sie war ein Geschenk und eins der wenigen Zeichen, dass er sie wenigstens gemocht hatte. Sie war ein kleiner Beweis, dass sie sich das Ganze nicht bloß eingebildet hatte.
»Ähm, danke«, erwiderte sie und wünschte sich, sie hätte ein Buch in der Hand und könnte vortäuschen zu lesen. Das Mädchen war hübsch wie ein Model, doch Em wurde das Gefühl nicht los, dass etwas mit ihr nicht stimmte.
»Ich bin Ali.« Sie hielt ihr die Hand hin. Em zögerte, bevor sie ihre ausstreckte und die Hand des Mädchens rasch ergriff. Sie war eiskalt.
»Hi. Ich bin Em.« Erleichtert registrierte sie, dass der Zug in den Nordbahnhof einfuhr. Demonstrativ suchte sie ihre Sachen zusammen und richtete den Blick nach unten, um die Gegenstände in ihrer Handtasche zu ordnen.
»Ich wünsche dir einen wunderbaren Abend, Em«, sagte das Mädchen und lachte so, als hätte es gerade einen Witz erzählt. Dann schwebte es Richtung Ausgang davon. Em stand erst von ihrem Sitz auf, als sie es aus dem Zug steigen und in der Menge verschwinden sah.
Es war nichts, sagte sie sich immer wieder. Bloß eine seltsame Begegnung.
Doch sie wurde die Kälte nicht mehr los, die ihr bei Alis eisigem Handgriff in den Arm gekrochen war.
Kaum war Em ausgestiegen, ging es ihr schon besser. Jetzt änderte sie sogar komplett ihre Meinung, was die Orchidee betraf. An der frischen Luft wurde ihr klar, dass es inzwischen nicht mehr darauf ankam, was wirklich passiert war und was sich nur in ihrem Kopf abgespielt hatte. Alles, was zählte, war, dass es vorbei war.
Sie riss die Blume von ihrer Tasche und warf sie auf die Schienen.
Die Handtasche unter dem Arm, einen heißen (sofort nach Verlassen des Zuges gekauften) Dunkin’-Donuts-Kaffee in der Hand, schaffte Em es voller Stolz, mit der T, der Bostoner Untergrundbahn, vom Nordbahnhof bis zur Newbury Street zu fahren, ohne ein einziges Mal den Linienplan zu konsultieren. Sie durfte nicht vergessen, JD davon zu erzählen, der sie fortwährend damit aufzog, dass sie angeblich null Orientierungssinn habe. Oben im Freien waren die Gehwege mit Schneematsch und Streusalz bedeckt und in den Bäumen funkelten Lichterketten. Es lag eine gewisse Spannung in der Luft: in dicke Schals eingemummelte Mädchen liefen mit
Weitere Kostenlose Bücher