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Rache - die Handschrift des kleinen Mannes - Erlebnisse eines Leipziger Antiquitaetenhaendlers

Rache - die Handschrift des kleinen Mannes - Erlebnisse eines Leipziger Antiquitaetenhaendlers

Titel: Rache - die Handschrift des kleinen Mannes - Erlebnisse eines Leipziger Antiquitaetenhaendlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Schmidt
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Provenzen beherrschen – isch erzähl kein Schaiß!!«, plärrte Kretzschmar. Mit Provinzen meinte er natürlich die ehemaligen Kreise im Osten, wie z.B. Torgau, Bitterfeld, Eilenburg, Delitzsch etc. Dabei perlte ihm Schweiß von der Stirn, demjenigen, der die Massen wissentlich anlog wie ein Wahrsager. »Wenn Se Fraren haben, dann können Se se jetz jerne stelln!«, fuhr er fort. Pro forma waren alle Anwesende mit Kugelschreibern und Notizblöcken bewaffnet. Einige Bewerber schrieben sogar mit. Eine Dame neben mir schmunzelte überlegen, weil ich nichts dergleichen tat. Ich schaute auf ihren Zettel. Sie notierte alles in Kurzschrift, weil sie aus der ,alten DDR-Schule’ kam. »Und«, fragte ich, »auch auf Jobsuche?« Sie bejahte und grinste. Plötzlich war die Ruhe vorbei und alle Bewerber schnatterten durcheinander. »Wör sen doch nisch in dor Klippschole!«, rief Kretzschmar böse. Nun trat wieder Ruhe ein. »Also, wenn Se Fraren haben ...«, wiederholte er. Zum Einsatz als Anzeigenverkäufer gab es nur spärliche Informationen, doch viel mehr über berufliche »Salto mortale« nach vorn. Der Traum von Traumjob und Trampschifffahrt nach Honolulu hatte sich nun in den meisten Köpfen der Bewerber festgesetzt und war noch lange nicht ausgeträumt. Es wurde irgendwie langweilig im Saal. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man 150 Redakteurinnen und Redakteure und entsprechend weibliche und männliche Assistenten brauchen würde. Ich hoffte wenigstens auf einen Job für mich als Austräger, abends, ganz nebenbei, denn für tausend Stadtanzeiger zahlte man immerhin 25 DM. Es war eine Knochenarbeit. Voraussetzung war nämlich das Einstecken der kostenlosen Zeitungen in jeden Briefkasten einzeln. Jetzt ging man daran, sehr feierlich so genannte Kontrakte auszugeben. Viele der müdegewordenen Bewerber wurden wieder mobil und stürzten sich förmlich auf die Mitarbeiter des Stadtanzeigers. Kretzschmar trat erneut in Aktion. »Bötte!«, rief er, »Sie wöllen nochmal Platz nehmen!« Da waren wohl Erklärungen zum Kontrakt erforderlich, wie er meinte. In Wirklichkeit handelte es sich um ein Formular oder besser gesagt um einen thermokopierten Wisch, der unter die Leute gebracht werden sollte. Auf ihm war zu lesen: Stückzahl/Entlohnung, Territorium/Ort bzw. jeweiliger Stadtbezirk von Leipzig. Am Schluss folgte die Unterschrift des Zeitungsausträgers – punktum! Die Erklärung Kretzschmars zu diesem lapidaren Formularinhalt hätte sicherlich Stunden in Anspruch genommen, wenn der Saal nicht in Sekunden wie leer gefegt gewesen wäre. Im Moment benötigte man tatsächlich nur Zeitungsausträger, diese aber in Hülle und Fülle. Da gab es z.B. den Stadtanzeiger für den Kreis Delitzsch und Eilenburg mit einer Auflage von über 40.000 Exemplaren und 100.000 Stück für den Raum Leipzig. Mit mir waren etwa noch zehn Leute vor Ort geblieben. Dann erfuhr ich, dass ebenso Anzeigenberater bzw. Verkäufer gesucht würden. Dazu setzte ich mich mit einer Mitarbeiterin vom Hallenser Stadtanzeiger zusammen, die mir den Anzeigenverkauf und die gestalterischen Belange einschließlich der Abrechnung erläuterte. Ein Bekannter aus meiner Straße, René Kamprad, ließ sich betreffs des Austragens der Zeitungen vergattern. Er würde das mit links über die Bühne ziehen, meinte er. Das ganze Gebiet um die Schönefelder Gorkistraße, einschließlich der Lindenallee, nahm er auf die Raufe und zwar ohne Hilfskraft. Er packte sich am nächsten Morgen gleich zehntausend Exemplare in seinen Trabi und fummelte jede Zeitung einzeln in die Briefkästen der Gorkistraße. Zur Zeit gab es eben noch die »Tage der offenen Türen«, d.h., an den Haustüren befanden sich selten Sprechanlagen, nur gewöhnliche Klinken und die Briefkästen befanden sich im Hausflur. In einem Fall war die Haustür verschlossen. Kamprad klingelte. Von oben schaute eine Frau auf die Straße. »Is’n?«, fragte sie. Kamprad wollte einen Stadtanzeiger feilbieten. »Mir ham so vill Babier, Mann!« Bums – zu war das Fenster! Kamprad schnürte ein kleines Bündel und klemmte es zwischen Türklinke und Tür. In diesem Moment kam ein Hausbewohner von der Straße und war im Begriff, die Haustür aufschließen. Er schleuderte das Zeitungsbündel einfach in den gewöhnlichen Hausmüll. Dann kam Kamprad auf die Idee, die Zeitungsstapel in kleine Pöstchen aufzuteilen, zu je zehn Exemplaren. Dann wurde er immer dreister und stellte ganze Stapel in öffentliche Gebäude. Auf diese

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