Racheakt
nicht fähig.«
Die unbesehen bestellte Vorspeise entpuppte sich als kleine Pizza, unterteilt in mehrere unterschiedlich belegte Segmente. Der Kellner servierte mit elegantem Schwung und Peter Nachtigall entdeckte auf einem Teil mit Meeresfrüchten einen ganzen Minitintenfisch und erschauerte.
Offenbar hatte sie seinen Blick bemerkt, denn Sie fragte: »Stimmt was nicht mit Ihrer Pizza?«
»Auf meinem Teller befindet sich eine Leiche. Vielleicht sehen Sie besser nicht hin. Hier kommt jede, auch psychologische Hilfe zu spät. – Ich finde es einfach schrecklich, wenn sich so intakte Tiere in meinem Essen finden. Wenn ich zum Beispiel Geschnetzeltes anbrate, kann ich die Pute nicht mehr als solche erkennen. Ich habe schon beruflich so viel mit Tod zu tun, dass ich ihm nicht so unmittelbar beim Abendessen begegnen möchte.«
Angewidert betrachtete er den Tintenfisch und hob ihn dann mit der Gabel etwas an.
Wenn sie lachte, stellte Peter Nachtigall fest, sah sie richtig liebenswert aus. Er entdeckte um ihre Augen und die Lippen einige Lachfältchen, die dem Gesicht viel von seiner sonst abweisenden Strenge nahmen. Ihr leises Lachen klang gluckernd und fast ein bisschen eingerostet – so, als benutze sie es nicht allzu oft.
Etwas überrascht stellte er fest, dass sie ihm gefiel. Ja, dass sie in ihm Gefühle weckte, von denen er glaubte, sie seien ihm nach Birgits Weggang gänzlich abhanden gekommen. Sie ist eine Zeugin in einem Mordfall!, rief er sich unwillig ins Gedächtnis. Aber der würde auch irgendwann abgeschlossen sein, gab eine andere Stimme in seinem Kopf hoffnungsvoll zu bedenken.
Vielleicht gab es im Alltag einer Psychotherapeutin, die sich hauptsächlich mit Sexualstraftätern befasst, nicht viel zu lachen und sie war deshalb ein bisschen aus der Übung. Und plötzlich ertappte er sich bei dem Gedanken an die private Frau Dr. Jung. Gab es wohl einen Partner, Familie?
»Bestimmt wäre es in diesem Fall angemessen, die Beseitigung der sterblichen Überreste der restauranteigenen Fachkraft für derartige Zwischenfälle zu überlassen«, ging sie auf seinen lockeren Ton ein und unterbrach den Fluss seiner abschweifenden Überlegungen.
»Sie waren auf der Beerdigung«, sagte er unvermittelt.
»Ja. Das ist nicht verboten.«
»Nein. Aber es hat mich überrascht.«
»Das verstehe ich nicht. Ich war dort, weil es mich sehr traurig macht, wenn ein so junges Mädchen auf diese Weise sterben muss. Und außerdem muss ich mich Ihnen gegenüber nicht für mein Verhalten rechtfertigen.«
Dabei sah sie so unglücklich aus, dass Nachtigall spontan seine Hand auf die ihre legte. Sie zuckte zusammen und er zog sie schnell zurück.
Wieder breitete sich Schweigen aus, als hätten sie einander beim Naschen verbotener Früchte ertappt. Eine solche Frau …, dachte er sehnsüchtig.
Die Gnocchi kamen und Peter Nachtigall registrierte den guten Appetit seiner Begleiterin. Die Damen, mit denen er sonst gelegentlich ausging, schienen sich nur vorsichtig und sparsam von Rohkost zu ernähren. Besonders seine Schwester Sabine, die sich seit Kindertagen in permanentem Kampf gegen Pölsterchen und Polster befand, konnte sich immer nur schwer zu einer Bestellung durchringen. Aber auch Jule hatte die Kalorien stets fest im Blick und verdarb ihrem Vater oft genug den Genuss, indem sie ihn mit genauen Angaben zu Fett, Kohlehydraten, Kalorien und dem sportlichem Aufwand zur Verbrennung derselben quälte.
Er wartete. Noch hatte sie nicht wirklich versucht ihn auszufragen. Bestimmt würde sie erst nach dem Essen damit beginnen, wenn die Gnocchi und der Wein für entsprechendes Wohlbehagen sorgten und womöglich seine Polizistenvorsicht einlullten. Uhh, was bist du für ein misstrauischer Kauz geworden, schalt er sich, Polizistenseele durch und durch.
Wenn man mal davon absah, dass sie sich mit diesen Verbrechern beschäftigte und diese auf ihr Gutachten hin von Gerichten auf freien Fuß gesetzt wurden – war sie eine sehr angenehme Gesellschaft. Sie war intelligent, stand mit beiden Beinen im Leben, war durchaus einfühlsam, was ihre Beschreibung der Situation von Günter Grabert bewies. Außerdem sah es so aus, als hielte sie nichts von künstlichem Aufplustern oder dem kosmetischen Beschönigen der Tatsachen.
Verstohlen warf er ihr einen prüfenden Blick zu. Wenn sie schon immer so war, hatte sie es während der Pubertät sicher nicht gerade leicht gehabt.
»Woran denken Sie?«
»An Jule. Meine Tochter«, kriegte er
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