Racheakt
begann Peter Nachtigall und sah sie nachdenklich, ein wenig tadelnd an.
Zu seiner Überraschung versuchte sie gar nicht erst ihre Absicht zu verstecken.
»Aber ich möchte Ihnen auch was erzählen – über Günter Grabert und seine Therapie zum Beispiel«, sie nickte ihm zu. »Ich habe mit Herrn Grabert gesprochen und er hat mir von ihrem ›Besuch‹ bei ihm erzählt.«
»Ja, ich habe mich mit ihm unterhalten. Er hat mir auch von Androcur und seinen Nebenwirkungen erzählt. Und er hat mir zu verstehen gegeben, dass er nicht so blöd wäre alles, was er schon erreicht hat, aufs Spiel zu setzen. Insbesondere würde er mit Sicherheit nichts unternehmen, was seine Freiheit gefährden könnte. Ach ja – und er hat mir versichert, er hätte auch gar keine Lust mehr irgendwelche Mädchen zu töten«, bot Nachtigall ihr eine Zusammenfassung des Gesprächs an.
Der Kellner trat an ihren Tisch und sie bestellten Gnocchi mit Gorgonzolasoße, einen Salat und eine Flasche Weißwein.
»Na, das ist doch gut.«
»Hören Sie – genau das erzählt mir beinahe jeder. Er war es nicht, würde niemals so etwas tun, hatte noch nie auch nur etwa die Idee zu einem Mord. So ist das immer! Machen wir uns doch nichts vor. Wenn die Täter merken, es wird eng, kommen eben die immergleichen Argumente, weil sie nichts dringender wollen, als ihre Haut zu retten! Ihr Günter Grabert bleibt in unserem Visier. Auf freiem Fuß ist er ja wieder – mehr können Sie von uns erstmal nicht erwarten.«
»Günter Grabert hat vor zwölf Jahren einen Mord begangen.« Sie beugte sich vor und sprach in eindringlichem Ton, als hätte sie Angst, er könne ihr nicht wirklich zuhören. »Das stimmt, und lässt sich nicht mehr rückgängig machen, so sehr der Täter das heute wünschte. Der Richter verurteilte ihn zur Unterbringung im Maßregelvollzug, weil der Gutachter ein deutliches Risiko für eine Wiederholungstat erkennen wollte. Als mir Günter Grabert zugewiesen wurde, hatte ich sofort den Eindruck, er könnte es wirklich schaffen. Er könnte der sein, dem es gelingt seinen Drang zu töten endgültig zu überwinden, seine Affekte unter Kontrolle zu bringen. Er ist entschlossen ein eigenes Leben aufzubauen.«
Ihre Augen leuchteten und Peter Nachtigall registrierte überrascht, wie sich ihr gesamtes Gesicht dadurch veränderte. Die harte Linie um den Mund war verschwunden, die strengen Falten geglättet. Mit einem Mal wirkte sie sehr fraulich, aber auch sensibel. Eine Seite, die sie offensichtlich sonst eher zu verbergen trachtete.
»Ich verstehe nicht, wie Sie sich da so sicher sein können.«
Er probierte von dem trockenen Wein. Über den Rand des Glases warf er ihr einen fragenden Blick zu.
»Verstehen Sie das wirklich nicht? – Hier geht es um Vertrauen. Vertrauen ist die Basis jeder Therapie. Auch wenn Sie zu Ihrem Hausarzt gehen, hat das nur einen Sinn, wenn Sie ihm und seinen Fähigkeiten vertrauen – nur dann werden Sie seine Hinweise beachten und die verordneten Medikamente einnehmen.«
Sie prostete ihm lächelnd zu.
»Und in der Psychotherapie ist Vertrauen noch wichtiger. Nur wenn der Patient dem Therapeuten vertraut, wird er ihn auch in sein Innerstes hineinsehen lassen. Schließlich erzählen Sie nicht jedem X-beliebigen, dass Sie einen Mord begangen haben und warum. Das Besondere an der Beziehung zwischen Günter Grabert und mir ist unser gegenseitiges unbedingtes Vertrauen. Er hat mir wirklich alles erzählt – hat mich teilhaben lassen an seinen Empfindungen bei der grausamen Tat. Er ließ mich seine Befriedigung miterleben und später seinen Ekel und seine Abscheu.«
Sie fing die Augen des Hauptkommissars ein und hielt sie fest.
»Nur weil er mir vertraut, nimmt er Androcur. Nur weil er mir glaubt, es wird ihn ins Leben zurückführen. Ich weiß genau, wie sehr er die Taten von damals bedauert und wie sehr er sich die Freiheit gewünscht hat. Er kann es nicht getan haben – er ist dazu gar nicht mehr fähig.«
»Wenn Sie bei der Kripo wären, würden Sie diese Formulierung nicht so leichtfertig verwenden. In meinem Job sieht man tagtäglich, wozu unscheinbare, unauffällige und von ihren Mitmenschen geschätzte Leute fähig sind! Denken Sie nur an den liebevollen Familienvater, der eines Abends nach Hause kommt und Frau und drei Kinder niedermetzelt – weil er das ewige Gequatsche nicht mehr ertragen kann, nur einfach mal seine Ruhe haben will. Freunde und Nachbarn behaupteten fest, der Vater sei zu einer solchen Tat gar
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