Racheakt
Immerhin ist es hier trocken und relativ warm, bequeme Bänke laden dazu ein sich zu setzen und ins Gespräch mit anderen vertieft, entspannt zu trinken und zu rauchen. Die eine Bank wird von einer Gruppe Hopper okkupiert, um die Ecke treffen sich Skins. Schwarz gekleidete Mitarbeiter eines Wachdienstes, muskelbepackt und allen körperlichen Herausforderungen gewachsen, behalten die Grüppchen scharf im Auge. Überhaupt scheint jeder jeden irgendwie im Auge zu behalten: Ein Serientäter geht um in der Stadt! Rettet eure Töchter oder ihr werdet sie verlieren!
Stolze Mamis schieben ihre Babys in Kinderwagen durch die Passage. Andere bummeln an den Schaufenstern vorbei, gestresste Hausfrauen hasten mit dem Rollband in die untere Etage, um schnell das Fehlende fürs Abendessen einzukaufen. Es ist erst kurz nach vier Uhr und draußen doch schon stockdunkel. Das gleichmäßige Rauschen des Regens erfüllt die gesamte Passage und sorgt so für ein beinahe anheimelndes Hintergrundgeräusch, das die Gespräche abpuffert und das Rattern der Rolltreppe dämpft.
Gerade als ich schon aufgeben will, sehe ich sie in einem der Sportgeschäfte an der Kasse stehen. Freundlich spricht sie mit der Kassiererin und ihr helles Lachen ist bis in die Galerie zu hören.
Irgendwie kommt sie mir heute kleiner vor als sonst. Aber das könnte auch an mir liegen. Mein Auftrag sorgt dafür, dass sich mein Körper strafft und die freudige Erwartung seiner Erfüllung lässt mich wohl größer erscheinen. Schließlich bin ich das Schicksal – oder vielleicht eher Gott – und sie wird mir bei der Rettung als Gehilfe dienen.
Heute trägt sie ihr blondes Haar hoch gesteckt. Die locker von Klammern gehaltenen Strähnen kringeln sich am Hinterkopf und einzelne Locken umschmeicheln ihr engelhaftes Gesicht, lassen ihre Züge noch weicher und liebreizender erscheinen.
Wie schon bei unseren letzten »zufälligen« Begegnungen ist sie gekonnt geschminkt. Ihre Augen wirkten durch das Umranden mit weißem Kajal größer, offener und für die Betonung von Wangen und Lippen hat sie einen zarten Roséton gewählt. Eingehüllt von ihrem betörenden Duft folge ich ihr.
Eine Gruppe Heranwachsender kommt uns entgegen. Sie bleiben stehen und mustern sie unverhohlen. Einige pfeifen ihr hinterher. Scheinbar ungerührt geht sie weiter, ohne die Gruppe nur eines Blickes zu würdigen.
Aber mir fällt sofort auf, wie sehr ihr der Pfiff gefallen hatte. Es ist, als beginne sie leicht zu schweben und ihre Hüfte schwingt noch deutlicher bei jedem Schritt. Vor der Glastür holt uns das schlechte Wetter ein. Der Wind zerrt an ihrer Kleidung und sie muss ihren Schirm aufspannen, um einigermaßen trocken die Straßenbahnhaltestelle zu erreichen. Ich lasse mir Zeit. Beobachte, wie sie sich zu den anderen Menschen unter das kleine Dach drängt. Gleich werden wir nach Sandow fahren und sie wird noch viel Zeit mit mir verbringen – nur mit mir.
Voll gespannter Erwartung und Vorfreude zittern meine Hände. Ich schiebe sie tief in die Manteltaschen und ertaste dort mit fliegenden Fingern all meine Helfer.
Mein Atem geht viel zu schnell. So, als wäre ich gerannt. Das ist auffällig, denn bei jedem Ausatmen entsteht eine kleine Wolke und ich stehe im Dunst wie eine alte Lokomotive.
Um nicht aufzufallen, ziehe ich meine Hände wieder aus den Taschen und blase die Atemluft hinein, als friere ich. Ein rascher Blick in die Umgebung zeigt mir die Unsinnigkeit meiner Besorgnis. Es ist Feierabendzeit – keiner der anderen Fahrgäste nimmt überhaupt Notiz von mir. Umso besser!
Die Bahn biegt leise quietschend in die Haltestelle ein und im allgemeinen Gewühl beim Einsteigen hätte ich meine Schöne mit beiden Händen berühren können, ohne irgendein Aufsehen zu erregen!
Die Anonymität der Großstadt hat eben auch ihre Vorteile. Ich bin entschlossen, sie für meine Zwecke zu nutzen.
33
Der Täter hatte den Körper auch diesmal wieder aufgebahrt.
Wie bei den anderen Opfern hatte er die junge Frau auf ein Reisigbett gelegt und ihren geschundenen Körper mit Moos bedeckt.
Hilflos starrte Peter Nachtigall auf die zerstörte Hülle, die bis vor ein paar Stunden eine sicher lebenslustige und fröhliche junge Frau gewesen war.
Die amputierten Brüste hingen im BH im Geäst des Busches, unter dem sie gefunden wurde, der Täter hatte ihr Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschnitten, Lippen und Nase abgetrennt, die Haare abgeschnitten.
Milchig trübe Augen starrten den
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