Racheakt
Puppen neben dem Opfer gelegen. Der Täter hatte sich allerdings nicht, wie bisher, darauf beschränkt Körperteile zu markieren oder dicke Striche durch das Gesicht zu ziehen – diesmal hatte er dem plastilinen Schönheitsideal auch die Hände amputiert. Nach den ersten Ergebnissen aus dem Labor hatte er dazu das gleiche Messer verwendet, wie für die Verstümmelungen an seinen früheren Opfern.
Peter Nachtigall starrte auf die Reihe von Puppen auf dem Regal unter dem Fenster. Drei tote Mädchen – drei Puppen. So wie die Taten selbst eskaliert waren, so sah man auch den Barbies eine Steigerung der Zerstörungswut an. Es reichte ihm nicht mehr, seine Opfer zu töten, die Brüste zu entfernen und die Haare abzuschneiden. Inzwischen zerstörte er ihre gesamte Identität. Er zerschnitt die Gesichter und trübte ihre Augen mit Lauge – und vor dem Abtrennen von Extremitäten schreckte er auch nicht mehr zurück, ein Zeh schien nicht mehr genug zu sein.
Was mochte diesem Täter widerfahren sein, der Frauen so sehr hasste, dass er ihnen das antat? Nachtigall grunzte unzufrieden. Wenn er diese Frage beantworten könnte, hätte er endlich einen konkreten Ansatz für seine Ermittlungen!
Von draußen drang das ewige Telefonklingeln in sein Büro, das die gesamte Polizei seit Tagen auf Trab hielt. Es stand kaum mal fünf Minuten still. Besorgte Mütter riefen an, wenn ihre Töchter sich verspäteten, wollten sie sofort vermisst melden, fragten nach, ob wohl wieder eine Leiche gefunden worden sei – nur um dann kurze Zeit später die gesunde Heimkehr des Mädchens zu melden. Nachtigall konnte diese Besorgnis zwar verstehen, aber sie band die Kräfte seiner Kollegen an der falschen Stelle.
Andere riefen an, um verdächtige Personen zu melden, die im Wald umherschlichen und sicher nichts Gutes im Schilde führten. Jedes Mal rückte eine Streife aus – traf aber in der Regel nur auf harmlose Spaziergänger, einzelne, abgehärtete Liebespärchen oder selbst ernannte Druiden, die irgendwelche Kräuter suchten, die man zu bestimmten Tageszeiten sammeln musste. Er hatte gar nicht gewusst, dass so spät im Jahr überhaupt noch etwas wuchs.
Die Tür öffnete sich und Emile Couvier steckte seinen Kopf herein.
»Ist es gestattet?«
Peter Nachtigall nickte gleichgültig.
»Eine Galerie des Schreckens, nicht wahr?«, bemerkte der forensische Psychologe und zeigte auf die Puppen.
»Ja.«
»Gerade den sadistischen Tätern ist oft völlig gleichgültig, wer ihr Opfer ist. Sie wählen es aus und töten es. Die Kriterien sind für uns meist erst rückbezüglich zu erkennen – wie zum Beispiel die Art eines Menschen zu lachen, oder sich die Brille auf der Nase zurechtzurücken. Wenn es dagegen die Haarfarbe ist oder die Körpergröße – oder auch der Beruf, können wir die Gemeinsamkeit schneller erkennen. Manche töten nur Zahnärzte oder nur Prostituierte.«
»Ja.«
»Bei der Untersuchung der Vergleichsfälle habe ich viele Täter mit gestörter Mutter-Sohn-Beziehung gefunden. Eine kalte, lieblose Mutter, die ihren Sohn vielleicht nicht annehmen konnte – in einem Fall, weil sie glaubte, er habe ein Intelligenzdefizit. Sie hatte ihn als Baby fallen lassen und gab sich wohl die Schuld an seiner verzögerten Entwicklung und verstieß ihn wegen seiner Andersartigkeit. – Gar nicht so weit entfernt vom Verhalten wilder Tiere, nicht?«
»Hmm.«
»Der Sohn wiederum glaubte, seine Mutter habe ihn womöglich mit Absicht fallen lassen – und er hasste sie dafür. Seine Opfer mussten sterben, weil sie sich nicht für ihn interessierten. Er glaubte, ihr Desinteresse habe seine Ursache in einem von ihnen vermuteten Intelligenzdefizit – und daran war wiederum seine Mutter schuld. Ein Teufelskreis.«
»Warum hat ihm dann nicht ein Mord genügt?«
»Oh, Sie hören ja doch zu! Weil er nicht das Mädchen, sondern seine Fantasie töten muss. Und das in jedem jungen Mädchen, das die Assoziation herbeiführt. Wodurch auch immer.«
»Warum wird er nie fertig? Es ist doch unwahrscheinlich, dass er stets kurz vor – bevor er fertig war – gestört wurde.«
Nachtigalls Blick streifte das Fenster. Es war schon wieder dunkel draußen. Der November war wirklich der ideale Monat für solch eine Mordserie – die Leute hielten sich nicht gerne im Freien auf und die frühe Dunkelheit erleichterte es dem Täter unerkannt zu entkommen.
»Er ist vielleicht ein Typ, der sich grundsätzlich zu viel vornimmt und dann scheitert. Dieses
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