Racheblut
um. Sie konnte die Hunde immer noch hören, doch jetzt schienen sie ihr weit weg, und weil sie sich auf der anderen Seite des Flusses befanden, hoffte sie, dass sie ihre Witterung verloren hatten.
Allerdings war sie nun selbst völlig erschöpft und zitterte in der kalten Nachtluft, deshalb kroch sie unter einen dichten Stechpalmenbusch, der ein paar Schritte vom Ufer entfernt stand, und versuchte, so tief wie möglich ins Dickicht zu robben. Schließlich blieb sie liegen und wartete, bis sie wieder zu Atem kam.
Während sich ihre Lunge beruhigte, musste sie an die Sterblichkeit des Menschen denken, dass die Welt eines Menschen durch einen Wimpernschlag aus den Fugen geraten konnte – oder durch den schlitzenden Hieb eines Messers. Gerade noch war sie eine glückliche Ehefrau gewesen, die ihr unbeschwertes Leben genoss, und im nächsten Moment lag ihr Mann tot in ihrem Ferienhäuschen, und sie fand sich allein und verängstigt im Wald wieder, verfolgt von einem, wahrscheinlich sogar zwei Killern, die ihre Hunde auf sie gehetzt hatten, aus Gründen, die sich völlig ihrem Verständnis entzogen. Warum um alles in der Welt sollten sie sie töten wollen? Sie hatte ja nicht einmal eine Ahnung, wer sie waren.
Ash blieb lange Zeit liegen und wartete. Wie lange? Eine Minute? Zwei? Fünf? Es war schwierig abzuschätzen, und sie wagte es nicht, ihr Handy herauszuholen und nachzusehen. Immerhin konnte sie keine Geräusche ihrer Verfolger mehr ausmachen. Auch das Gebell der Hunde war verstummt. Hatten sie aufgegeben? Oder lauerten sie irgendwo da draußen, bis sie sich rührte? Gott, sie fror entsetzlich. Sie konnte nicht ewig so liegen bleiben. Irgendwann, und zwar bald, würde sie sich nach einem wärmeren Schutz umsehen müssen. Sonst würden sie sie entdecken, wenn sie es nicht schon längst hatten.
Ein paar Meter entfernt knackte ein Ast. Ash zuckte zusammen.
Dann Stille. Eine Sekunde, zwei, drei. Ash hielt den Atem an und zwang sich, ihr Zittern zu beherrschen, weil sie damit das Laub unter ihr zum Rascheln brachte. Jeder einzelne ihrer Nerven war zum Zerreißen gespannt.
Sie hörte Schritte. Die näher kamen.
Oh Gott, nein! Sie wollte nicht sterben. Der Gedanke an ein Messer, das ihre Eingeweide zerfetzte, und an ein langsames Verbluten ließ sie vor Entsetzen beinahe aufschreien. Doch sie zwang sich, ruhig zu bleiben, um das Zittern zu unterbinden, und lag vollkommen bewegungslos da. Ohne die Hunde bestand die Möglichkeit, dass er sie übersah. Keines ihrer Glieder ragte heraus. Es könnte klappen.
Bitte, lieber Gott, wenn es dich gibt, dann hilf mir jetzt. Bitte, bitte, mach, dass er mich nicht sieht. Bitte.
Er war direkt vor ihr, sie spürte seine Gegenwart. Seine Stiefel knirschten auf dem Waldboden, als er mit schweren Schritten den Busch umkreiste.
Nicht bewegen. Nicht atmen. Ja nicht bewegen.
Ash rang sich dazu durch, die Augen zu öffnen, und sofort sah sie die untere Hälfte seiner Beine. Die schlammigen Stiefel standen keinen halben Meter von ihrem Kopf entfernt. Die Spitzen waren auf sie gerichtet.
Großer Gott, er weiß, dass ich hier bin.
Das Ganze schien zu einem grausamen Versteckspiel mutiert zu sein, und Ashs Lunge drohte jeden Moment zu explodieren. Gleich würde sie nach Luft schnappen müssen.
In diesem Moment ging er weiter, Richtung Ufer, und je mehr er sich entfernte, desto mehr bekam sie von ihm zu sehen. Es war der aus der Lodge. Der, der Nik erstochen hatte. In der Hand hielt er noch immer das blutige Messer. Schweinehund.
Aus dem Augenwinkel sah Ash neben ihrer rechten Hand einen gezackten Feuerstein glimmen, er hatte gerade die Größe einer Faust, und plötzlich spürte sie eine noch nie gekannte Wut in sich aufsteigen. Ash betrachtete sich als umgängliche, liberale junge Frau, die nicht an den Sinn der Todesstrafe glaubte, doch in diesem Moment wollte sie nichts anderes, als dieses Schwein zu töten, das Schwein, das aus dem Nichts aufgetaucht war und ihr Leben zerstört hatte. Sie gönnte sich einen tiefen, lautlosen Atemzug, dann tastete sie, bis ihre Finger den Stein spürten und packten.
Ihr Verfolger war am Fluss in die Hocke gegangen und suchte links und rechts das Ufer ab.
Dann drehte er sich langsam um, und Ash merkte, dass er sie in dieser Stellung entdecken musste.
Die Angst überwältigte sie wieder, doch diesmal war sie mit Wut und Verzweiflung gepaart, widerstrebende Gefühle, die sie durchzuckten, wie Stromschnellen einen Fluss. Sie musste sich entscheiden.
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