Rachedurst
dabei gedacht. Ich habe mich erst wieder daran erinnert, als ich ihn im Fernsehen gesehen habe. Ich bin kein großer Baseball-Fan. Ich wusste bis dahin gar nicht, wer er war.«
»Haben Sie ihn an seinen Tisch gebracht?«, fragte ich weiter.
»Nein, ich habe kein einziges Wort mit ihm gewechselt.«
»Was hat er getan? Haben Sie zufällig was bemerkt? Irgendetwas?«
»Ich weiß nicht. Ich war mit anderen Gästen beschäftigt. Ich erinnere mich nur, dass ich ihn irgendwann bemerkt habe. Er sah sich um.«
Nach mir?
Hatte er gedacht, wir würden uns um zwölf statt um halb eins treffen?
Völlig verblüfft versuchte ich mir einen Reim auf dieses neue Rätsel zu machen. Ich wusste nur mit Sicherheit, dass Dwayne am Tag darauf um halb eins im Restaurant gewesen war. Courtney hatte gesagt, sie habe seinen Agenten nicht gefragt, warum er mich versetzt hatte. Hatte Dwayne gedacht, ich hätte ihn versetzt? Wenn ja, warum hatte er sich dann noch die Mühe gemacht, mich am nächsten Tag zu treffen?
Schon seit zwölf Jahren war das Stellen von Fragen ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. So funktioniert meine Arbeit. Ich stelle Fragen, ich bekomme Antworten und finde heraus, was ich wissen muss. Zack, zack, zack. So einfach ist das. Besonders, wenn ich mich intensiv mit einer Geschichte beschäftige.
Aber dieser Fall hier war anders gelagert. Je mehr Fragen ich Tiffany stellte, desto weniger verstand ich, was geschehen war.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie bedränge, aber erinnern Sie sich noch an etwas anderes? An egal was?«
Sie wandte nachdenklich ihr Gesicht ab. »Eher nicht. Außer …«
»Außer was?«
»Nun, er wirkte sehr nervös.«
»Sie meinen sowas wie, dass er auf und ab ging?«
»So offensichtlich war es nicht«, antwortete sie. »Es waren eher seine Augen. Er war ein großer Mensch, aber er wirkte fast … als hätte er Angst, weil er hier war.«
Ich klatschte mir an die Stirn, als mir ein lateinischer Spruch aus meinen Schultagen an der St. Patrick’s School in den Sinn kam. Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem.
Mein Latein war immer nur so lala, doch diese Redewendung habe ich nie vergessen. Sie ist die Grundlage für das,
was allgemein mit »Ockhams Skalpell« bezeichnet wird. Übersetzt bedeutet der Satz mehr oder weniger: »Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden.« Mit anderen Worten, wenn alle Dinge gleich sind, ist die einfachste Lösung die beste.
Und was hatte ich in Bezug auf Dwayne Robinson einfach vergessen?
Seine Sozialphobie. Natürlich.
Jetzt ergab die Sache einen Sinn. Er war beim ersten Mal zu früh zu unserer Verabredung gekommen. Er hatte laut Tiffany verängstigt gewirkt. Weil er es immer war. Er war nervös wegen des Interviews und vielleicht auch wegen des vollen Restaurants. Menschen konnten ihn sehen, manch einer auch erkennen.
Also bekam er kalte Füße und verschwand.
Ich dankte Tiffany für meine Jacke und ihre Zeit und Hilfe. Ich dachte, sie hätte mir in der Sache mit Dwayne Robinson einen Curveball zugeworfen, doch als ich das Lombardo’s verließ, war ich überzeugt, des Rätsels Lösung gefunden zu haben. »Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem.«
Was ich leider zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, dass ich absolut falsch lag. Denn auch bei Ockhams Skalpell gilt: Keine Regel ohne Ausnahme. Manchmal ist die einfachste Lösung doch nicht die beste.
Wie gesagt, in Latein war ich nicht so furchtbar gut. Sondern völlig horribilis, um die Wahrheit zu sagen.
30
David Sorren liebte Einwegspiegel. Für ihn stellten sie das Herz und die Seele seiner Arbeit als Bezirksstaatsanwalt von Manhattan dar und konnten als sprichwörtliche Metapher für seinen Erfolg gelten.
Ich habe dich ständig im Auge.
Und ich blinzle nie.
Seit er nach seinem Jurastudium als aufstrebender Stern zur Staatsanwaltschaft gegangen war, hatte er hinter diesen Einwegspiegeln mit verschränkten Armen und gelockerter Krawatte gestanden, hatte Hunderte von Verbrechern beobachtet, eingeschätzt und bewertet. Hin und wieder war ein unschuldiger Mensch hier gelandet, doch derer gab es nicht viele.
Die Wahrheit war ganz einfach: Sitzt du erst einmal auf einem Polizeirevier, also auf der falschen Seite des Einwegspiegels, ist die Wahrscheinlichkeit extrem hoch, dass du etwas zu verbergen hast.
Und David Sorrens Arbeit – nein, seine Mission – bestand darin, herauszufinden, was das war.
Dann wirst du dafür an die Wand gestellt und
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