Rachedurst
kleiner dunkler Fleck war, während Marybeth das Tier erst wahrnahm, wenn es heranstürmte, um sie über den Haufen zu rennen.
Doch als er ans Vorderfenster trat, spürte er, wie sich Glasscherben in seine nackten FüÃe gruben, und schrie vor Schmerz auf.
Dann sah er das Loch in der Scheibe, das einem winzigen Stern glich. Jemand hatte auf ihr Zuhause geschossen.
Er drehte sich um und vergegenwärtigte sich die Flugbahn. Der Schuss war von der StraÃe gekommen und durchs Fenster in das Familienfoto eingeschlagen, das Marybeth letzten Sommer von ihnen aufgenommen hatte: Lächelnd standen sie vor der Koppel, und die Berge umrahmten sie im Hintergrund. Joe fand, dass sie auf dem Foto alle etwas befangen wirkten und wie für ein Begräbnis herausgeputzt, und auch ihr Lächeln erschien ihm ein wenig aufgesetzt. Nur Lucy sah wie immer gut aus. Das Porträt hing ein wenig schief.
Er humpelte mit schmerzenden FüÃen durchs Wohnzimmer und starrte das Bild an. Die Kugel hatte den GroÃteil seines Gesichts durchbohrt und in die Wand hinter dem Rahmen gedrückt. Unter dem Einschussloch war nur noch sein lächelnder Mund zu sehen.
Ein Frösteln durchlief ihn. Dann überkam ihn der Zorn.
Wer auch immer hinter diesen Attacken steckte: Wieder war er direkt zu seinem Haus gekommen und diesmal auf gewisse Weise sogar bei ihm eingedrungen. Dass die Kugel nicht nur das Porträt, sondern genau sein Gesicht getroffen hatte, war kein Zufall. Wenn Nate in der Gegend wäre, dachte Joe, würde ich ihn jetzt um Hilfe bitten. Aber Nate war nicht in der Gegend, und eigenständige Ermittlungen aufzunehmen war Joe offiziell untersagt.
Scheià drauf!
Marybeth kam die Treppe herunter, sah die blutigen Spuren am Boden und folgte ihnen, bis sie vor Joe stand.
»Du hast recht«, sagte er. »Wir holen die Kinder und dann ziehen wir auf die Ranch.«
»Joe ⦠«
»Den Kerl kauf ich mir.«
***
Der Morgen dämmerte schon fast, als er spürte, dass sie sich bewegte. Sie lagen nackt und in der Löffelchenstellung aneinandergeschmiegt da. Er hatte ein Bein zwischen ihre Schenkel geschoben und drückte sie so fest an sich, dass er ihr Herz dort, wo seine Hand ihre Brust umspannte, schlagen fühlte. Seine FüÃe waren bandagiert. Sie war hellwach â wie er.
»Das alles geschieht auf einer so persönlichen Ebene«, flüsterte sie. »Das ängstigt mich zu Tode.«
»Ich finde den Kerl, Marybeth.«
Sie schwieg. Die Minuten verrannen, und er fing an, sich vor ihren nächsten Worten zu fürchten. Vielleicht würde sie Nate Romanowski erwähnen? Womöglich wünschte sie, Nate würde ihre Familie beschützen, nicht er. Würde er, wenn sie Nates Namen nannte, weitermachen können? Es würde sich anfühlen, als hätte er alles verloren. Ihre kleine Familie war sein einziger Anker auf Erden, die einzige Konstante. Sollten sie auseinandergerissen werden, würde er in einem Ausmaà seines Halts beraubt, das er sich nicht einmal vorzustellen wagte.
Die Sonne stieg langsam hinter dem Wolf Mountain auf und lieà weiches, kaltes, graues Licht durch die Jalousien sickern.
Er war tief in schwermütige Gedanken versunken, als Marybeth sagte: »Ich liebe dich, Joe Pickett. Und ich weiÃ, dass du uns beschützen wirst.«
Trotz der misslichen Umstände war Joe plötzlich voller Freude und Zuversicht. Zu ihrer Ãberraschung beugte er sich über sie und küsste sie.
»Womit hab ich das verdient?«
Er mühte sich um eine Antwort. Die Einzige, die ihm in den Sinn kam, war: »Mit allem.«
Doch beim Aufstehen holte ihn der Gedanke, dass sie davonliefen, wieder ein. Und er hasste es davonzulaufen.
21. KAPITEL
Am Samstag wurde der Scarlett-Flügel der Historischen Gesellschaft des Twelve Sleep County feierlich eröffnet. Es war ein frischer Frühsommertag mit gleiÃendem Sonnenlicht, dem der Duft der eben erblühten Wildblumen und die ersten Kiefernpollen, die vom Gebirge herabgeweht kamen, einen ganz eigenen Charakter verliehen.
Joe und Marybeth saÃen auf Metallklappstühlen, die auf dem Museumsparkplatz aufgestellt waren. Anscheinend war fast alles gekommen, was in Saddlestring und Umgebung Rang und Namen hatte, auch Missy und Bud Longbrake, die in der Reihe vor ihnen saÃen und den Mädchen Stühle frei gehalten hatten. Obwohl kein Platzanweiser die Neuankömmlinge mit
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