Racheklingen
von sieben. Es war vollbracht.
SAAT
Es war ein Wintermorgen, kalt und klar, und Monzas Atem blies weiße Wölkchen in die Luft.
Sie stand draußen vor dem Saal, in dem man ihren Bruder getötet hatte. Auf jenem Balkon, von dem man sie damals geworfen hatte. Ihre Hände ruhten auf dem Geländer, über das man sie gerollt hatte. Über dem Berghang, auf dem sie beinahe zu Tode gestürzt war. Sie fühlte immer noch die nagenden Schmerzen in den Knochen ihrer Beine, auf dem Rücken ihrer behandschuhten Hand, seitlich an ihrem Kopf. Sie fühlte die brennende Gier nach der Spreupfeife. Es war alles andere als behaglich, von hier oben in den Abgrund hinunterzustarren, auf die winzigen Bäume, die ihren Fall damals gebremst hatten. Deswegen kam sie jeden Morgen hierher.
Ein guter Anführer sollte sich nie behaglich fühlen, hieß es bei Stolicus.
Die Sonne stieg langsam am Himmel empor, und die leuchtende Welt war voller Farben. Das Blut war vom Himmel gesickert und hatte ein strahlendes Blau zurückgelassen, weiße Wolken krochen hoch oben dahin. Im Osten verlor sich der Wald in einem Flickenteppich von Feldern – Flächen aus fahlem Grün, fetter schwarzer Erde, goldenem Korn. Wenn man den Blick noch weiter in die Ferne richtete, dann mündete dort der Fluss im grauen Meer, verzweigte sich in einem breiten Delta voller versprengter Inseln. Monza konnte winzige Türme dort erahnen, Gebäude, Brücken, Mauern. Das große Talins, nicht größer als ihr Daumennagel. Ihre Stadt.
Die Vorstellung kam ihr noch immer vor wie das Gefasel eines Verrückten.
»Euer Exzellenz.« Monzas Kämmerer lauerte in einem der hohen Eingänge und verbeugte sich so tief, dass er beinahe den Stein hätte lecken können. Fünfzehn Jahre lang hatte er Orso gedient, um dann, nach der Erstürmung von Fontezarmo, die er unbeschadet überstanden hatte, mit bewundernswerter Geschmeidigkeit von einem Dienstherrn zu einer Dienstherrin zu wechseln. Monza hatte schließlich Orsos Stadt gestohlen, seinen Palast, sogar einige seiner Kleider, die sie allerdings ein wenig hatte ändern lassen. Wieso also nicht auch seine Bediensteten? Wer verstand sich denn besser auf ihre Arbeit?
»Was ist?«
»Ihre Minister sind hier. Lord Rubine, Kanzler Grulo, Kanzlerin Scavier, Oberst Volfier und … Frau Vitari.« Er räusperte sich und wirkte leicht betreten. »Darf ich fragen, ob Frau Vitari bereits einen besonderen Titel erhalten hat?«
»Sie kümmert sich um jene Dinge, die niemand, der einen besonderen Titel trägt, erledigen kann.«
»Natürlich, Euer Exzellenz.«
»Führen Sie sie herein.«
Die schweren Türflügel schwangen auf. In die gehämmerten Kupferplatten, die das Holz bedeckten, hatte man gewundene Schlangen eingraviert. Nicht so kunstvoll, wie Orsos Löwenköpfe aus Furnier gewesen waren, dafür aber wesentlich widerstandsfähiger. Dafür hatte Monza gesorgt. Ihre fünf Besucher stolzierten, schritten, wuselten und schlurften über die Schwelle, und ihre Schritte hallten über den kühlen Marmor von Orsos privatem Audienzsaal. Es war schon zwei Monate her, und sie hatte immer noch nicht verinnerlicht, dass das alles nun ihr gehörte.
Vitari kam als Erste, und sie trug ungefähr dieselbe dunkle Kleidung und dasselbe süffisante Grinsen wie damals, als Monza ihr in Sipani das erste Mal begegnet war. Dann erschien Volfier, steif aufgerichtet in seiner tressenbesetzten Uniform. Scavier und Grulo drängten sich gegenseitig in dem Versuch beiseite, als Nächster zu folgen. Der alte Rubine, schwer unter seiner Amtskette gebeugt, schleppte sich als Letzter dahin und nahm sich wie immer viel Zeit.
»Du hast dieses Ding ja immer noch nicht rausgeschmissen.« Vitari warf dem riesenhaften Porträt Orsos, das wie zuvor von der Wand hinabsah, einen langen Blick zu.
»Wieso sollte ich? Es erinnert mich an meine Siege und an meine Niederlagen. Erinnert mich daran, wo ich herkomme. Und dass ich nicht die Absicht habe, je wieder dorthin zurückzukehren.«
»Außerdem es ist ein schönes Gemälde«, bemerkte Rubine, der sich betrübt umsah. »Es sind ja nur noch so wenige geblieben.«
»Die Tausend Klingen sind, wenn sonst schon nichts, zumindest sehr gründlich.« Aus dem Saal war ungefähr alles verschwunden, was nicht angenagelt oder in den Berghang gemeißelt gewesen war. Orsos riesenhafter Schreibtisch stand noch immer grimmig in einer Ecke geduckt da, wenn auch leicht von einem Axthieb versehrt, weil jemand darin offenbar Geheimfächer vermutet hatte.
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