Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
kommen an die Oberfläche. Mehr ist es nicht«, schloss er freundlich.
Ich verdrehte die Augen. Ich konnte nicht anders. Chris bemerkte es.
»O nein, das hatte ich ganz vergessen.« Er lachte. »Du hast ja kein Problem mit Drogen.«
Er stand auf und wollte gehen. Geh nicht, wollte ich sagen.
»Das Komische ist nur«, hörte ich seine Stimme wieder, »dass du dich verhältst wie jemand, der Probleme hat.«
39
N ach dem Abendessen gingen wir zu einem Vortrag. Es gab oft Vorträge, die von einem der Therapeuten oder von Dr. Billings gehalten wurden. Aber ich hörte nie zu. An diesem Abend schenkte ich dem Sprecher zum ersten Mal meine Aufmerksamkeit, weil ich dankbar war, von dem schweren Kummer, der mich ganz gefangennahm, abgelenkt zu werden.
In dem Vortrag ging es um Zähne, und die Vortragende war Barry Grant, die hübsche, kleine, flotte Frau aus Liverpool.
»Aber, aber«, tönte ihre kräftige Stimme, die gar nicht zu ihrer zierlichen Gestalt passte, »Ruhe bitte, bitte Ruhe!«
Wir wurden ruhig, weil wir Angst hatten, sie würde sonst Kopfnüsse verteilen. Sie begann mit ihrem Vortrag, den ich sehr interessant fand. Eine Zeitlang wenigstens.
Anscheinend hatten Menschen mit Drogen- oder Essproblemen häufig besonders schlechte Zähne. Zum Teil lag das an ihrem ausschweifenden Lebensstil – Leute, die Ecstasy nahmen, knirschten mit den Zähnen, bis sie sie zu Pulver gemahlen hatten; Leute mit Bulimie umspülten ihr Gebiss jedes Mal, wenn sie sich übergaben, mit Salzsäure und konnten froh sein, wenn sie überhaupt noch einen Zahn im Mund hatten; desgleichen Alkoholiker, die sich auch häufig übergaben.
Nicht nur führten sie ein exzessives Leben, sagte Barry Grant, sondern sie gingen auch nicht regelmäßig zum Zahnarzt. (Abgesehen von den Insassen am andere Ende der Skala, die unter den verschiedensten Vorwänden viel zu häufig zum Arzt, zum Zahnarzt oder ins Krankenhaus gingen.)
Es gab viele Gründe, warum Süchtige nicht zum Zahnarzt gingen, erklärte Barry Grant.
Mangel an Selbstwertgefühl war einer davon: Sie waren es ihrer Meinung nach nicht wert, dass sie sich pflegten und auf sich achteten.
Die Angst, Geld auszugeben, war ein weiterer. Süchtige setzten klare Prioritäten und gaben das meiste Geld für ihre Sucht aus, welcher Art auch immer.
Angst an sich war der wichtigste Grund, behauptete sie. Jeder hatte Angst vorm Zahnarzt, aber Süchtige stellten sich dieser Angst nicht, so wie sie sich nie einer beängstigenden Situation stellten. Immer wenn sie Angst hatten, tranken sie eine Flasche Whiskey oder vertilgten eine Wagenladung Käsekuchen oder setzten ihren Monatslohn auf einen sicheren Tipp.
Das war alles faszinierend, und ich nickte und machte zustimmend: »Mmhmm.« Trüge ich eine Brille, so hätte ich sie abgenommen und mit einem überlegenen Nicken am Bügel herumgeschwungen. Bis mich wie aus heiterem Himmel der Gedanke durchzuckte, dass ich seit ungefähr fünfzehn Jahren nicht beim Zahnarzt gewesen war.
Wahrscheinlich länger nicht.
Ungefähr neun Sekunden später spürte ich einen kleinen Schmerz in einem Backenzahn.
Als es Zeit war, ins Bett zu gehen, war ich wahnsinnig vor Schmerzen. Das Wort »Schmerz« war völlig unzureichend, um die heißen, metallischen Elektrofunken grässlichster Folter zu beschreiben, die zwischen meiner Schädeldecke und meinem Kiefer tobten. Es war grauenhaft.
Immer wieder wollte ich aufspringen und nach dem Glas mit den kostbaren, wunderbar wirkenden Dihydrocodeintabletten greifen und merkte dann verwirrt, dass ich keine hatte. Und dass all die schönen Schmerzmittel in der obersten Schublade meiner Kommode in New York zurückgeblieben waren. Immer vorausgesetzt natürlich, dass es noch meine Kommode war und dass Brigit sich keine neue Mitbewohnerin gesucht und meine Sachen auf die Straße geschmissen hatte.
Der Gedanke war viel zu unangenehm, um ihm nachzugehen. Zum Glück waren meine Zahnschmerzen so unsäglich schlimm, dass ich gar nicht lange an etwas anderes denken konnte.
Ich versuchte, den Schmerz auszuhalten. Gut fünf Minuten blieb ich standhaft, bevor ich in den Speisesaal hineinrief: »Hat jemand von euch Schmerztabletten?«
Es dauerte einen Moment, bis ich verstand, warum alle vor Lachen brüllten.
Ich ging vor Celine, der Schwester, die an dem Abend Dienst hatte, fast auf die Knie.
»Ich habe entsetzliche Zahnschmerzen«, wimmerte ich und presste meine Hand an die Wange. »Kann ich was gegen die Schmerzen haben. – Heroin
Weitere Kostenlose Bücher