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Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Titel: Rachel im Wunderland: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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war meinetwegen.«
    »Das ist ziemlich überheblich von Ihnen«, sagte Josephine. »Sie waren ja nur ein Kind, sie konnten unmöglich so wichtig gewesen sein.«
    »Wie können Sie das sagen? Ich war wichtig!«
    »Na ja«, murmelte sie. »Sie halten sich also für wichtig?«
    »Nein!«, fuhr ich wutschäumend dazwischen. So hatte ich es nicht gemeint. »Ich fühle mich nie besser als andere.«
    »Das ist aber nicht der Eindruck, den Sie erweckten, als Sie nach Cloisters kamen«, sagte sie sanft.
    »Aber das liegt doch daran, dass das hier Bauern und Al- koholiker sind«, platzte ich heraus, bevor mir richtig bewusst wurde, dass ich gesprochen hatte. Ich hätte mir die Stimmbänder mit einem Kartoffelschäler herausschneiden können.
    »Ich glaube, Sie müssen anerkennen, dass ich in diesem Punkt recht hatte.« Sie lächelte anmutig. »Sie haben eine für viele Menschen mit einer Suchtstruktur typische überhöhte Selbsteinschätzung, plus einer extrem niedrigen Selbstachtung.«
    »Das ist doch Unsinn«, murmelte ich. »Das ergibt keinen Sinn.«
    »Aber so ist es. Es ist eine anerkannte Tatsache, dass Menschen, die zur Sucht neigen, oft eine ähnliche Persönlichkeitsstruktur haben.«
    »Ach so, man wird also als Süchtiger geboren?«, sagte ich höhnisch. »Dann hat man ja keine Chance.«
    »Das ist eine Denkrichtung. In Cloisters sehen wir das etwas anders. Wir sind der Auffassung, dass es eine Kombination aus der Persönlichkeit des Einzelnen und seinen Lebenserfahrungen ist. Nehmen wir Ihren Fall – Sie waren emotional weniger ... robust, könnte man sagen, als andere. Das ist nicht Ihre Schuld. Manche Menschen kommen mit schlechten Augen zur Welt, zum Beispiel, andere sind auf der Gefühlsebene sehr empfindlich. Die Geburt Ihrer Schwester war ein traumatisches Erlebnis für Sie in einem Alter, als Sie besonders leicht verletzbar waren ...«
    »Ich verstehe, also jeder, der eine jüngere Schwester hat, wird kokainsüchtig?«, sagte ich wütend. »Ich habe sogar zwei jüngere Schwestern. Was sagen Sie denn dazu? Sollte ich nicht auch noch heroinsüchtig sein und nicht nur eine Kokserin? Zum Glück habe ich nicht drei jüngere Schwestern, oder?«
    »Rachel, Sie machen sich lustig. Aber es gehört zu Ihrer Abwehr ...«
    Sie brach ab, weil ich wie ein hungriger Präriehund über sie herfiel.
    »Aufhören!«, schrie ich. »Ich halte das nicht mehr aus, es ist alles so ein ... SCHEISSDRECK!«
    »Wir haben gerade an einen tiefsitzenden Schmerz gerührt, Rachel«, sagte sie ruhig, während mir förmlich der Schaum vor dem Mund stand. »Versuchen Sie, auf diese Gefühle zu hören, statt vor ihnen davonzulaufen, wie Sie es bisher immer getan haben. Wir müssen noch viel erledigen, damit Sie der dreijährigen Rachel verzeihen können.«
    Ich stöhnte verzweifelt auf. Wenigstens hatte sie nicht von dem »inneren Kind« gesprochen, dieser Begriff, der einen immer innerlich zusammenzucken ließ.
    »Und was die Übrigen angeht«, sagte sie zum Schluss, »glauben Sie nicht, dass Sie, weil Sie nicht die riesige Bürde eines verzerrten Kindheitsschmerzes mit sich tragen, keine Alkoholiker oder Süchtigen sind.«

    Während des ganzen Mittagessens weinte ich, und weinte und weinte. Ein Weinen, bei dem das Gesicht anschwoll und von roten Flecken verunziert wurde. Nicht die Krokodilstränen, die ich für Chris herausgepresst hatte, als ich hörte, dass Luke mich verraten hatte. Sondern unaufhaltsames, erschütterndes Weinen. So hatte ich seit meiner Teenagerzeit nicht mehr geweint.
    Ich war voller Trauer. Trauer, die den Herzensschmerz, den Luke mir zugefügt hatte, weit überstieg. Trauer, tief und rein und uralt, die mich hoffnungslos umklammert hielt.
    Die anderen waren richtig nett zu mir, hielten mir Taschentücher hin und Schultern, an die ich mich lehnen konnte, aber ich bemerkte sie kaum. Alles war mir gleichgültig, auch Chris. Ich war ganz woanders, wo all der nackte Schmerz, der je existiert hat, in mich hineingepumpt wurde. Ich weitete mich, um ihn in mir aufzunehmen, und je mehr kam, desto heftiger fühlte ich ihn.
    »Was ist denn los?«, fragte eine Stimme sanft. Vielleicht war es Mike, vielleicht sogar Chris.
    »Ich weiß auch nicht«, schluchzte ich.
    Ich sagte nicht einmal »Entschuldigung« wie die meisten Menschen, wenn sie in der Öffentlichkeit plötzlich weinen mussten. Ich spürte Verlust, Verschwendung, Unwiederbringlichkeit. Irgendetwas war für immer verloren, und wenn ich auch nicht wusste, was es war, so

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