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Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Titel: Rachel im Wunderland: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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treffen, und zwang mich, wieder nach unten zu gehen.
    Ich musste mich richtig überwinden, das Zimmer zu verlassen. Schüchtern und verängstigt, wie ich war, argwöhnte ich, dass die anderen über mich redeten. Als ich den Speiseraum betrat (ich drückte mich an der Wand entlang und lutschte an einem Finger wie ein Kind; aber eine Frau von meiner Größe hatte es schwer, wenn sie »niedlich« erscheinen wollte), hatte ich Mühe, überhaupt jemanden zu erkennen, weil die Luft voller Zigarettenqualm war. Aber soweit ich es mitbekam, saßen die anderen herum, tranken Tee, lachten, unterhielten sich und sprachen ganz offensichtlich nicht über mich.
    Ich schlängelte mich in den Raum. Ich kam mir vor wie auf einer Party, bei der man niemanden kennt. Einer Party, bei der es nichts zu trinken gibt.
    Erleichtert erkannte ich Mike wieder. Draußen hätte ich ihn kaum gegrüßt, aus Angst, dass man denken könnte, ich sei mit ihm befreundet, aber im Moment war ich vor lauter Angst froh, ihn zu sehen, und durchaus bereit, über die Tatsache, dass er Hosen mit Schlag trug und aussah wie ein Stier mit einer Lockenperücke, hinwegzusehen, weil er mich vor Sadie im orangefarbenen Overall beschützt hatte.
    »Wo finde ich die Gruppe von Josephine?«, fragte ich ihn.
    »Komm mal mit, ich erklär dir, wie das hier funktioniert.« Er zeigte mir ein schwarzes Brett an der Wand mit einem Stundenplan.
    Ich überflog ihn kurz, er schien sehr voll. Morgens und nachmittags Gruppentherapie, Vorträge, Gesprächsrunden, Termine für AA, für NA, für AS ...
    »Bedeutet das AA so viel wie Anonyme Alkoholiker?« fragte ich Mike ungläubig.
    »Genau.«
    »Und NA?«
    »Narcotics Anonymous.«
    »Was soll das denn sein?«, fragte ich.
    »Dasselbe wie AA, nur für Drogen«, erklärte er.
    »Das kann nicht sein«, sagte ich belustigt. »Meinst du das im Ernst?«
    »Ja.« Er sah mich merkwürdig an. Ich hatte keine Ahnung, was der Blick bedeutete.
    »Und AS?«
    »Anonyme Spieler.«
    »Und AE?« Ich konnte das Lachen kaum noch unterdrücken. »Nein, warte, ich weiß schon – anonyme E-Mailer – Leute, die nicht aufhören können, E-Mails zu schreiben.«
    »Anonyme Esssüchtige«, sagte er mit unbewegter Miene. Sein hässliches Gesicht war wie ein Brocken Granit.
    »Verstehe.« Ich versuchte, nicht loszuprusten, und schämte mich, weil ich mich über die AA und NA und AS und alle anderen lustig gemacht hatte. Ich konnte mich ja darüber amüsieren, aber für die armen Kerle hier war es sicherlich eine Frage des Überlebens.
    »Und hier steht, wo die Sachen stattfinden.« Er zeigte auf eine weitere Spalte. Ich bemühte mich, interessiert zu wirken. »Hier, heute ist Freitag, um zwei Uhr trifft sich die Gruppe von Josephine in der Abtklause ...« Die Gruppen trafen sich in Räumen mit wunderschönen Namen wie Stille Einkehr, Wintergarten oder Meditationszimmer.
    »Das ist also die neue Dame«, unterbrach uns eine Männerstimme.
    Ich drehte mich um, aber das hätte ich auch lassen können. Es war einer der kleinen, dicklichen, mittelalten Männer, die es hier zuhauf gab. Wie viele Männer in braunen Acrylpullovern passten in ein Haus hinein?
    »Wie kommst du klar?«, fragte er.
    »Ganz gut«, sagte ich höflich.
    »Mein erster Tag hier war auch furchtbar«, sagte er freundlich. »Aber nach einer Weile wird es besser.«
    »Wirklich?« fragte ich kläglich. Seine Freundlichkeit kam so unerwartet, dass mir plötzlich zum Weinen zumute war.
    »Ja«, sagte er, »und dann wird es wieder schlimmer.« Das sagte er, als wäre es die Pointe von einem Witz, warf den Kopf zurück und lachte schallend. Nach einer Weile beruhigte er sich wieder, streckte seine Hand aus und schüttelte meine. »Ich heiße Peter.«
    »Rachel.« Ich brachte ein Lächeln zustande, obwohl ich ihm lieber eine runtergehauen hätte.
    »Mach dir nichts draus«, sagte er mit einem Zwinkern. »Ich bin komplett übergeschnappt.«
    Schon bald stellte ich fest, dass Peter einen wunderbaren Sinn für Humor hatte und über alles lachte, auch über die schlimmen Dinge. Besonders über die schlimmen Dinge.
    Bald würde ich ihn hassen.
    »Komm, trink doch eine Tasse Tee, bevor die Gruppensitzungen anfangen«, schlug er vor.
    Ich goss mir eine Tasse Tee ein, die erste von mehreren Tausenden (obwohl ich eigentlich keinen Tee mochte), und setzte mich an den Tisch. Im Handumdrehen war ich von Männern umringt, von denen leider kein einziger jung war oder gut aussah, und alle wollten etwas über mich

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