Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
verärgert zu sein schien.
»Sie sehen schlecht aus«, sagte sie. »Schon den ganzen Tag.«
»Ich habe letzte Nacht nicht genügend geschlafen«, sagte ich und atmete erleichtert auf. »Und vielleicht habe ich auch noch ein bisschen Jetlag.«
»Warum haben Sie denn nichts gesagt?«
»Ich weiß auch nicht«, grinste ich. »Irgendwie bin ich es gewöhnt, dass ich mich beschissen fühle. Meistens geht es mir bei der Arbeit ziemlich dreckig ...« Ich sprach nicht weiter, weil ich den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah. Das hier war nicht die Frau, mit der ich über durchgemachte Nächte sprechen konnte.
»Warum geht es Ihnen schlecht, wenn Sie bei der Arbeit sind?«, fragte sie, und fast hätte ich mich von ihrer freundlichen Stimme überrumpeln lassen. Fast.
»Ich bin kein Morgenmensch«, sagte ich kühl.
Sie lächelte. In diesem einen Blick lag ihr Urteil über mich. Meine Begeisterung verpuffte. Sie weiß Bescheid, dachte ich mit großem Unbehagen, sie weiß alles über mich.
»Ich bin der Meinung, dass Sie nach dem Abendessen ins Bett gehen sollten«, sagte sie. »Die Therapeutin und ich haben das besprochen, und wir sind uns einig, dass es nicht so schlimm ist, wenn Sie den Spieleabend verpassen.«
»Was für einen Spieleabend?«
»Jeden Samstagabend gibt es Spiele. Die Reise nach Jerusalem, Bäumchen-wechsel-dich, Blinde Kuh, und so.«
Das kann nicht ihr Ernst sein, dachte ich. Das ist das Peinlichste, was ich je gehört hatte.
»Es macht sehr viel Spaß.« Sie lächelte.
Du arme Frau, dachte ich, wenn das deine Vorstellung von Spaß ist.
»Dann können sich alle ein bisschen gehen lassen«, fuhr sie fort. »Es ist das einzige Mal in der Woche, wenn keiner von uns Therapeuten oder Schwestern dabei ist, also eine gute Gelegenheit, sich über uns lustig zu machen ...«
Als sie das sagte, wurde mir bewusst, dass es das war, was mich den ganzen Tag beschäftigt hatte: Die Insassen waren nie allein. Selbst bei den Mahlzeiten saß einer von den Mitarbeitern still in ihrer Mitte.
»Also, nach dem Abendessen gehen Sie schleunigst ins Bett«, befahl sie mir.
Vielleicht könnte ich erst noch zur Massage oder ins Solarium gehen, machte ich mir Hoffnungen.
»Könnte ich ...?«, fing ich an.
»Ins Bett«, unterbrach sie streng. »Abendessen und ins Bett. Sie sind müde, und wir wollen nicht, dass Sie krank werden.«
Mir kam es ganz verkehrt vor, dass ich an einem Samstagabend um sieben Uhr im Bett liegen sollte. Es konnte höchstens sein, dass ich um diese Uhrzeit noch flachlag, weil ich mich vom Abend zuvor noch nicht erholt hatte. (Was gar nicht so selten vorkam, um ehrlich zu sein. Besonders, wenn es spät geworden war und ich eine kräftige Ladung Kokain komsumiert hatte.)
Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, nicht dazuzugehören, das ich den ganzen Tag über schon gehabt hatte, verstärkte sich noch, als ich im Bett saß und unruhig durch Chaquies Zeitschriften blätterte, während der Regen an die klappernden, zugigen Fenster prasselte. Ich war einsam und hatte Angst. Und ich kam mir vor wie eine Versagerin. Es war Samstagabend, Zeit, sich zurechtzumachen, auszugehen, sich zu vergnügen. Stattdessen lag ich im Bett.
Meine Gedanken kreisten um Luke. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so ohnmächtig gefühlt. Es war klar, dass er ausgehen und sich ohne mich amüsieren würde. Vielleicht würde er sogar – mein Innerstes krampfte sich vor Angst zusammen –, vielleicht würde er eine andere Frau kennenlernen. Und sie mit in seine Wohnung nehmen. Und mit ihr schlafen ...
Bei dem Gedanken packte mich – wie damals im Flugzeug – ein fast unbezähmbaresVerlangen, aufzustehen und mich anzuziehen und irgendwie nach New York zu kommen, um ihn daran zu hindern. Verzweifelt nahm ich eine Handvoll Erdnussflips aus der Tüte und stopfte sie mir in den Mund. Das Panikgefühl ließ ein bisschen nach. Die Erdnussflips waren ein großer Trost. Neil hatte sie mir großzügig geschenkt, als er hörte, dass ich frühzeitig ins Bett geschickt wurde. Eigentlich hatte ich vorgehabt, nur ein paar zu essen, aber ich futterte mich durch die ganze Tüte. Wenn es im Haus eine offene Packung mit Knabbersachen gab, konnte ich nicht ruhig schlafen.
Zu gerne hätte ich ein paar Schlaftabletten gehabt. Oder Valium. Irgendwas, um das schreckliche Gefühl bodenloser Angst wegen Luke zu beschwichtigen. Es war geradezu unmenschlich, von mir zu erwarten, solchen Herzenskummer ohne Pharmazeutika zu bewältigen, dachte ich voller
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