Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
schnaubte.
»Na also.« Sie lächelte.
»Wann bekomme ich ihn zu lesen?«, fragte ich.
»Das entscheidet Josephine. Wenn sie der Ansicht ist, dass es für Ihre Heilung wichtig ist, liest sie ihn vielleicht in der Gruppe vor ...«
»Was, in der GRUPPE?«, kreischte ich. »Vor den anderen?«
»Es wäre ja kaum eine Gruppe, wenn außer Ihnen keiner da wäre, nicht wahr?«, sagte Celine mit dem ihr eigenen warmen, aber völlig unparteiischen Lächeln.
Panik kam in mir hoch und schäumte über.
Unter gar keinen Umständen würde ich hierbleiben und mich einer solchen Behandlung aussetzen!
Aber dann fiel mir wieder ein, dass Dr. Billings gesagt hatte, dass die Tore verriegelt seien. Das stimmte. Als wir ankamen, musste Dad sich über eine Gegensprechanlage vorstellen, bevor die Tore geöffnet wurden. Und die Mauern waren hoch. Viel zu hoch für einen Mehlsack wie mich.
Wie um alles in der Welt bin ich bloß in diese Lage geraten? Genau so mussten sich Brian Keenan und John McCarthy gefühlt haben, als sie, an einen Heizkörper gekettet, in einem Keller eines heruntergekommenen Vororts von Beirut saßen.
»So schlimm ist es doch nicht«, sagte Celine, als würde sie das tatsächlich glauben. Sie lächelte mir tröstend zu, aber es verfehlte ganz und gar seine Wirkung.
»Was meinen Sie damit?« Ich schrie fast. »Das ist das Schlimmste, was je in meinem Leben passiert ist!«
»Dann können Sie von Glück reden, dass Sie bisher ein so sorgenfreies Leben hatten.«
Ich konnte ihr offenbar nicht klarmachen, wie katastrophal das alles war.
Jedes Mal, wenn ich mir vorstellte, dass der Fragebogen vor den anderen in der Gruppe vorgelesen werden würde, bekam ich eine Gänsehaut. Ich hätte alles gegeben, um zu wissen, was Luke geschrieben hatte.
Oder vielleicht doch nicht?
Wollte ich wirklich hören, welches Urteil Luke über mich fällte?
Ich saß in der Klemme. Nicht zu wissen, was er geschrieben hatte, war zermürbend, aber es zu wissen wäre eine Pein. Ich wüsste, ich würde es mit mehr oder weniger abgewandtem Gesicht lesen und bei jedem bösen Wort zusammenzucken.
In dem Moment hätte ich für eine stimmungsverändernde Droge zum Mörder werden können. Irgendwas. Es musste kein Valium sein. Eine Flasche Brandy täte es auch.
In unerträglicher Erregung stand ich auf und wollte zu Dr. Billings gehen. Ich würde darauf bestehen, dass er mir den Fragebogen vorlas.
»Setzen Sie sich!«, befahl Celine, plötzlich sehr streng.
»Wie ...?«
»Setzen Sie sich! Diesmal werden Sie Ihren Willen nicht gegen andere durchsetzen und das bekommen, was Sie wollen.«
Ich war wie vor den Kopf geschlagen von der Unterstellung, dass ich bei anderen Gelegenheiten meinen Willen gegen andere durchsetzte.
»Sie sind es gewöhnt, Ihre Bedürfnisse sofort zu befriedigen«, fuhr sie fort. »Es wird Ihnen guttun zu warten.«
»Sie haben also den Fragebogen doch gesehen?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Wieso sprechen Sie dann davon, dass ich meine Bedürfnisse sofort befriedigen möchte?«
»Jeder, der hierherkommt, hat die meiste Zeit in seinem Erwachsenenleben eine unmittelbare Wunscherfüllung angestrebt«, sagte sie, jetzt wieder in dem sanften, mütterlichen Ton. »Das ist ein fundamentaler Aspekt der Persönlichkeitsstruktur eines Süchtigen. Sie sind da nicht anders. Obwohl ich weiß, dass Sie sich für anders halten.«
Blöde, arrogante Ziege, dachte ich mit plötzlichem Hass. Das wird ihr noch leidtun. Bevor ich gehe, wird sie vor mir auf den Knien liegen und um Verzeihung bitten, weil sie so fies zu mir war.
»Wenn Sie hier wieder wegfahren, werden Sie mir zustimmen«, sagte sie mit einem Lächeln.
Ich starrte finster auf meinen Schoß.
»Trinken Sie noch eine Tasse Tee«, bot sie an. »Und nehmen Sie sich ein paar Kekse.«
Schweigend griff ich zu. Eigentlich wollte ich ihr zeigen, wie angewidert ich von allem war, und nichts essen, aber ein Schokoladenkeks ist und bleibt ein Schokoladenkeks.
»Wie geht es Ihnen jetzt?«, fragte Celine nach einer Weile.
»Ich friere«, sagte ich.
»Das ist der Schock«, sagte Celine.
Das gefiel mir. Das hieß, es war nichts dagegen einzuwenden, dass ich mich so elend fühlte.
»Ich bin müde«, sagte ich kurz darauf.
»Das ist der Schock«, sagte Celine wieder.
Und wieder nickte ich zufrieden. Richtige Antwort.
»Ihr Körper versucht, mit einer unangenehmen Erfahrung fertigzuwerden«, fuhr sie fort. »Normalerweise würden Sie zu einer Droge greifen, um den Schmerz zu
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