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Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)

Titel: Rachel im Wunderland: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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ich kam zu spät für die guten Stühle – und versuchte an Josephines Gesicht zu erkennen, ob ich dran war oder nicht. Doch als Folgewirkung von Emers Besuch stand Neil im Blickfeld. Es verschaffte mir tiefe Genugtuung, als die Gruppe auf die krasse Diskrepanz zwischen dem, was Emer über Neil erzählt hatte, und dem was Neil über sich selbst erzählt hatte, hinwies.
    Neil behauptete nach wie vor, dass wir alle, wenn wir mit Emer zusammenleben müssten, sie auch verprügeln würden. Und obwohl die anderen nicht so über Neil herfielen, wie es mir gefallen hätte, erklärten sie doch immer wieder, dass das, was Neil sagte, falsch war. Immer wieder, den ganzen Morgen mühten sie sich ab: Mike, Misty Vincent, Chaquie, Clarence. Sogar John Joe überwand sich und sagte, er habe nie die Hand gegen ein Kalb erhoben.
    Aber Neil weigerte sich standhaft, irgendwas zuzugeben.
    »Du bist widerlich«, brach es schließlich aus mir heraus, ich konnte mich einfach nicht mehr zurückhalten. »Du gemeiner Tyrann.«
    Ich war überrascht, als die anderen mir damit nicht recht gaben. Stattdessen sahen sie mich mit der gleichen teilnahmsvollen Miene an, mit der sie vorher Neil angesehen hatten.
    »Stimmt das Rachel?«, fragte Josephine. Auf der Stelle wünschte ich mir, dass ich geschwiegen hätte. »Es behagt Ihnen nicht, dass Neil tyrannisch ist?«
    Ich sagte nichts.
    »Rachel«, sagte sie, und ich hatte das Gefühl, dass etwas Unangenehmes auf mich zukam. »Was wir an anderen am wenigsten ausstehen können, sind die Eigenschaften, die wir auch in uns nicht mögen. Das ist vielleicht eine gute Gelegenheit, den Tyrannen in Ihnen zu analysieren.«
    Man konnte hier nicht einmal einen Furz lassen, ohne dass ihm eine lächerliche Interpretation übergestülpt wurde, dachte ich angewidert. Und sie hatte unrecht. Ich war kein bisschen tyrannisch.
    Zum Glück war am Nachmittag wieder Neil dran. Mein Fragebogen wurde nicht erwähnt.
    Josephine hatte beschlossen, dass die Insassen genügend Gelegenheit gehabt hatten, Neil zu helfen, und es an der Zeit war, schweres Geschütz aufzufahren – jetzt war sie dran.
    Es war faszinierend, wie Josephine Neils Lebensgeschichte hervorholte, die er vor meinem ersten Gruppennachmittag vorgelesen hatte. Mit großer Präzision entrollte sie sein Leben, als hätte sie an einem losen Faden in einem Pullover gezogen.
    »Sie haben fast gar nichts über Ihren Vater gesagt«, meinte sie freundlich. »Ich fand die Auslassung sehr interessant.«
    »Ich will nicht über ihn sprechen«, entfuhr es Neil.
    »Das ist nur zu offensichtlich«, antwortete sie. »Und genau deshalb sollten wir über ihn sprechen.«
    »Ich will nicht über ihn sprechen«, sagte Neil wieder, diesmal ein bisschen lauter.
    »Warum nicht?« Josephines Augen leuchteten wie die eines Hundes, der einen Knochen ergattert hat.
    »Ich weiß auch nicht«, sagte Neil, »ich will einfach nicht.«
    »Dann lassen Sie es uns doch herausfinden«, sagte Josephine und tat, als wäre sie seine Freundin. »Warum wollen Sie nicht über ihn sprechen?«
    »NEIN!«, wehrte Neil ab. »Lassen Sie mich in Ruhe.«
    »O nein«, beharrte sie. »Wir sollten Sie auf keinen Fall in Ruhe lassen.«
    »Es gibt nichts zu erzählen.« Neils Miene hatte sich verfinstert.
    »Offenbar gibt es viel zu erzählen«, sagte Josephine. »Warum sollten Sie sonst so aufgebracht sein? Erzählen Sie mir doch, hat Ihr Vater getrunken?«
    Neil nickte. Er war auf der Hut.
    »Viel?«
    Wieder ein wachsames Nicken.
    »Das ist doch wohl ein wichtiges Detail, das Sie aus Ihrer Lebensgeschichte fortgelassen haben, nicht wahr?«, sagte Josephine.
    Neil zuckte nervös mit den Schultern.
    »Wann hat er damit angefangen?«
    Es folgte eine lange Pause.
    »Wann?«, sagte sie schärfer.
    Neil zuckte zusammen und sagte: »Ich weiß nicht. Immer schon.«
    »Sie sind also damit aufgewachsen?«
    Neil nickte bestätigend.
    »Und Ihre Mutter?«, bohrte Josephine weiter. »Sie mögen Sie offenbar sehr.«
    Kummer überschattete sein Gesicht. »Das stimmt«, sagte er mit rauer Stimme voller Gefühl, was mich überraschte. Ich hatte gedacht, dass Neil nur sich selbst liebte und seinen eigenen Namen rief, wenn er einen Orgasmus hatte.
    »Hat sie getrunken?«
    »Nein.«
    »Nicht mit Ihrem Vater zusammen?«
    »Nein, nie. Sie hat versucht, ihn davon abzuhalten.«
    Es war mäuschenstill im Raum.
    »Und was passierte, wenn sie ihn davon abhalten wollte?«
    Es folgte ein schreckliches, angespanntes Schweigen.
    »Was

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