Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
passierte?«, wiederholte Joesphine die Frage.
»Er hat sie geschlagen«, sagte er mit tränenerstickter Stimme.
Woher wusste sie das?, fragte ich mich erstaunt. Woher wusste Josephine, welche Fragen sie stellen musste?
»Kam das oft vor?«
Erst war gar nichts zu hören, dann platzte Neil heraus: »Ja, die ganze Zeit.«
Mir wurde übel, so wie am Tag zuvor, als ich hörte, dass Neil Emer schlug.
»Sie waren das älteste Kind«, sagte Josephine zu Neil. »Haben Sie versucht, Ihre Mutter zu beschützen?«
Neil war weit weg, irgendwo in einer angsterfüllten Vergangenheit. »Ich habe es versucht, aber ich war zu klein, ich konnte nichts tun. Man hörte sie unten im Haus ... wissen Sie, was ich meine? Das Poltern. Die Schläge. Das Splittern ...« Sein Mund stand offen, und er sah aus, als müsse er sich übergeben.
Er legte sich die Hand vor den Mund, und wir starrten ihn an, vor Entsetzen gebannt.
»Und sie hat versucht, nicht zu schreien, wissen Sie?«, sagte er mit einem missglückten Lächeln. »Damit wir oben nichts hörten.«
Ich zitterte.
»Und ich habe versucht, meine Geschwister abzulenken, damit sie nichts merkten, aber das war unmöglich. Auch wenn man nichts hörte, spürte man die Angst.«
Schweißperlen standen mir auf der Stirn.
»Es passierte immer am Freitagabend, und mit jedem Tag, der verging, stieg die Angst in uns. Ich habe mir geschworen, dass ich ihn umbringen würde, wenn ich groß war. Und ich würde ihn um Gnade flehen lassen, wie er es mit ihr machte.«
»Haben Sie das getan?«
»Nein.« Neil rang sich die Antwort ab. »Der alte Drecksack hatte einen Schlaganfall. Und jetzt sitzt er den lieben langen Tag in einem Sessel, und meine Mutter bedient ihn von vorne bis hinten. Und ich sage immer zu ihr, sie soll ihn verlassen, aber das will sie nicht, und das macht mich ganz verrückt.«
»Was für Gefühle haben Sie jetzt gegenüber Ihrem Vater?« , fragte Josephine.
»Ich hasse ihn immer noch.«
»Und wie geht es Ihnen damit, dass Sie genau wie Ihr Vater geworden sind?«, fragte Josephine. Trotz ihrer sanften Art trat das Apokalyptische an der Frage klar zutage.
Neil starrte sie an, dann lächelte er zaghaft. »Was meinen Sie damit?«
»Ich meine damit, Neil«, sagte Josephine bestimmt, »dass Sie genau so sind wie Ihr Vater.«
»Das ist nicht wahr«, stammelte Neil. »Ich bin überhaupt nicht wie er. Ich habe mir immer vorgenommen, dass ich ganz anders werden würde als er.«
Ich war verblüfft über Neils Unfähigkeit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen.
»Aber Sie sind genau wie er«, sagte Josephine noch einmal. »Sie benehmen sich genau wie er. Sie trinken zu viel, sie machen Ihrer Frau und Ihren Kindern das Leben zur Hölle, und Sie schaffen eine neue Generation von Alkoholikern in Ihren Kindern.«
»NEIN!«, brüllte Neil. »Das stimmt nicht! Ich bin das genaue Gegenteil von meinem Vater.«
»Sie schlagen Ihre Frau, so wie Ihr Vater Ihre Mutter geschlagen hat.« Josephine kannte kein Erbarmen. »Und Gemma – so heißt doch Ihre Älteste? – hält vermutlich Courtney die Ohren zu, damit sie nichts hört, so wie Sie es bei Ihren Geschwistern getan haben.«
Neil wurde fast hysterisch. Er presste den Rücken an die Stuhllehne, Entsetzen stand in seinem Gesicht, als würde er an die Wand gestellt und eine Meute kläffender Pitbull-Terrier stürzte sich auf ihn.
»Nein!«, heulte er auf. »Das stimmt nicht!«
Seine Augen waren schreckerfüllt. Ich sah ihn an und begriff bestürzt, dass Neil wirklich dachte, es sei nicht wahr.
In dem Moment verstand ich zum ersten Mal in meinem Leben, was das in aller Munde geführte und völlig abgegriffene Schlagwort bedeutete – Leugnen. Es ließ meine Eingeweide vor Angst erschaudern. Neil konnte es nicht erkennen, er konnte es wirklich nicht, und es war nicht seine Schuld.
Ein Funken Mitleid entzündete sich in mir. Wir saßen schweigend und hörten Neils Schluchzer.
Endlich sprach Josephine wieder.
»Neil«, sagte sie sachlich und ruhig. »Ich verstehe, dass dies für Sie ein sehr schmerzlicher Moment ist. Lassen Sie diese Gefühle zu. Und ich möchte Sie bitten, ein, zwei Dinge im Kopf zu behalten. Wir lernen unsere Verhaltensmuster von unseren Eltern. Auch wenn wir die Eltern und ihre Verhaltensweisen hassen. Sie haben von Ihrem Vater gelernt, wie sich ein Mann zu verhalten hat, auch wenn Sie dieses Verhalten auf einer Ebene verabscheuten.«
»Ich bin anders!«, brüllte Neil. »Bei mir ist es nicht das
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