Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
seine Eltern meine Eltern kannten. Das könnte sich als günstig erweisen, falls er mich nicht anrief, wenn wir wieder draußen waren. Ich konnte ihn unter dem Vorwand, dass ich Mrs. Hutchinson eine Tupperware-Dose zurückbringen musste, besuchen. Mum hatte bestimmt eine Tupperware-Dose, die sie Mrs. Hutchinson spätestens einen Tag nach meiner Entlassung zurückgeben wollte. Mum und ihre Freunde liehen sich ständig gegenseitig Tupperware-Dosen aus. Käsekuchen, Nudelsalat, solche Sachen. Mir schien, als täten sie kaum etwas anderes.
Mum wollte uns bekannt machen.
»Das sind unsere Töchter: Claire ...«, sie zeigte auf mich.
»Rachel«, verbesserte ich sie.
»... und Anna, nein, das ist ja Helen.«
Helen entschuldigte sich höflich, indem sie in vertraulichem Ton zu Mr. und Mrs. Hutchinson sagte: »Ich muss mal aufs Klo«, und verschwand. Kurz darauf ging ich ihr nach. Nicht dass ich ihr nicht traute, es war nur ... Ich traute ihr eben nicht.
Sie saß auf der Treppe und war umringt von Männern. Im Speisesaal saßen offenbar nur die im Stich gelassenen Ehefrauen und Kinder. Einer der Männer war Chris. Ich war nicht überrascht, und ich war keineswegs glücklich darüber.
Sie erheiterte die gespannten Zuhörer mit Geschichten über irgendwelche Sauftouren. »Wie oft ich schon aufgewacht bin und mich nicht mehr erinnern konnte, wie ich nach Hause gekommen bin«, prahlte sie.
Keiner versuchte, ihre Geschichte zu übertreffen, indem er sagte: »Das ist noch gar nichts. Ich bin schon oft aufgewacht und wusste nicht mehr, ob ich tot oder lebendig war«, wozu sie ja durchaus berechtigt waren.
Stattdessen übertrafen sie sich mit begeisterten Vorschlägen: dass sie sich einweisen lassen solle, es gebe einen Platz für eine Frau, in dem Zimmer von Misty und Nancy sei noch ein Bett frei ...
»Du kannst natürlich auch in meinem Bett schlafen, wenn es sonst keinen Platz gibt«, schlug Mike vor. Da stieg Wut in mir auf. Seine arme, verhärmte Frau, die mit frischen Keksvorräten gekommen war, saß gleich um die Ecke.
Clarence versuchte, Helens Haar zu streicheln.
»Lass das bleiben«, sagte sie scharf. »Oder gib mir einen Zehner.«
Clarence fing an, in seinen Taschen zu kramen, doch Mike legte ihm eine Hand auf den Arm und sagte: »Sie beliebt zu scherzen.«
»Ich meine es ernst«, erwiderte Helen.
Während all dies stattfand, beobachtete ich voller Eifersucht Chris’ Gesicht. Ich wollte sehen, wie er auf Helen reagierte. Na ja, eigentlich wollte ich sehen, dass er nicht auf sie reagierte. Aber die beiden wechselten ein paar Blicke, die mir gar nicht gefielen. Sie schienen voller Andeutungen.
Mir war ganz elend, und es machte mich zutiefst unglücklich, dass ich neben meinen Schwestern immer verblasste. Selbst meine Mutter überstrahlte mich manchmal.
Wie eine Blöde hatte ich gedacht, ich hätte einen so großen Eindruck auf Chris gemacht, dass ich neben Helens Charme nicht ganz und gar abfiel. Aber ich hatte mich wieder einmal getäuscht, und wieder einmal stellte sich das ach so vertraute Gefühl ein, dass ich mir was vormachte.
Ich stand in der Gruppe der Männer und zwang mich, mit ihnen zu lachen, während ich mir wie ein Trampel und gleichzeitig völlig unsichtbar vorkam.
Über all das war ich so verstört, dass ich beim Abschied vergaß, Helen den Brief an Anna mitzugeben, in dem ich Anna bat, mich mit einer Ladung Drogen zu besuchen. Als ich Celine später um eine Briefmarke bat, sagte sie: »Selbstverständlich. Bringen Sie mir den Brief, und wenn ich ihn gelesen habe, sage ich Ihnen, ob Sie ihn schicken können.«
Ich hatte die Nase gestrichen voll und ging schnurstracks zu dem Schrank mit den Süßigkeiten. Ich riss die Türen weit auf und wartete darauf, dass mich die Lawine der Sonntagssüßigkeiten erschlug. Ich zögerte einen Moment und versuchte, Willenskraft aufzubringen. Doch dann sagte Chris: »Meine Güte, deine Schwester ist ja eine tolle Braut«, und der alte Schmerz darüber, dass ich ich war, überkam mich. Und nicht Helen. Oder jemand anders, irgendjemand, nur nicht ich.
Schokolade, dachte ich enttäuscht und unglücklich. Das brauche ich jetzt, wo schon keine Drogen da sind.
»Ist sie nicht klasse?«, brachte ich heraus.
Ich sah, wie Celine vor sich hin lächelte und dabei so tat, als wäre sie mit ihrer Handarbeit beschäftigt, die sie immer dabeihatte, wenn sie uns bewachte.
Ich konnte mich nicht zurückhalten und nahm eine Tafel Schokolade mit Rosinen in die Hand, die
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