Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
sieben Jahren heroinsüchtig gewesen zu sein. Sie hieß Nola, oder wenigstens sagte sie, dass dies ihr Name sei. Aber sie war so ruhig und gepflegt, dass ich schon bei ihrem Anblick wusste, dass sie noch nie einen Tag der Ausschweifungen erlebt hatte. Sie war bestimmt eine Schauspielerin, die von Cloisters angeheuert wurde, um den Junkies weiszumachen, dass sie von ihrer Sucht loskommen konnten. Aber mir konnte sie nichts vormachen.
Sie fragte mich, ob ich etwas sagen wollte, worauf ich völlig überrascht und verlegen ablehnte. Ich hatte Angst, sie zu verärgern. Aber sie lächelte mich so offen und strahlend an, dass ich in ihre Tasche krabbeln und bei ihr bleiben wollte. Ich fand sie wunderbar.
Zwei gute Dinge passierten während meiner durch Luke verursachten Zornes- und Verwirrungsphase. Erstens war es das Ende meiner Woche im Frühstücksteam, und ich wechselte in das Mittagsteam von Clarence. Das hieß, dass ich länger im Bett bleiben konnte und keine rohen Eier mehr ansehen musste. Zweitens wurde ich von der Krankenschwester Margot gewogen und brachte weniger als vierundfünfzig Kilo auf die Waage – ein Gewicht, von dem ich fast mein ganzes Leben geträumt hatte.
Aber als sie sagte: »Gut, Sie haben ein Kilo zugenommen«, war ich völlig perplex.
»Seit wann?«, fragte sie.
»Seit Ihrer Ankunft.«
»Woher wissen Sie, wie viel ich da gewogen habe?«
»Weil ich Sie gewogen habe.« Sie sah mich interessiert an und nahm eine weiße Karteikarte in die Hand. »Erinnern Sie sich nicht daran?«
»Nein.« Ich war wirklich erstaunt.
»Machen Sie sich nichts draus«, sagte sie und schrieb etwas auf die Karte. »Die meisten sind bei ihrer Ankunft derart umnebelt, dass sie nicht wissen, wo oben und unten ist. Es dauert eine Weile, bis der Dunst sich auflöst. Haben die anderen nicht gesagt, wie dünn Sie sind?«
Doch, manchmal. Woher wusste sie das?
»Schon«, gab ich zu, »aber ich habe ihnen nicht geglaubt. Ich dachte, weil sie Bauern sind und so, müssen Frauen in ihren Augen kräftig sein und ein gebärfreudiges Becken haben und stark genug sein, vier Meilen mit einem Schaf unter jedem Arm zurückzulegen und jeden Abend einen ganzen Kartoffelacker zum Essen zuzubereiten und ...«
Man konnte hier wirklich über nichts einen Witz machen. Während ich sprach, schrieb Margot im Eiltempo mit.
»Das war ein Witz «, sagte ich höhnisch mit einem bedeutungsvollen Blick auf die Karteikarte.
Margot lächelte verschwörerisch. »Aber auch Witze geben uns eine Menge Aufschluss, Rachel.«
Es gab keinen großen Spiegel, vor dem ich Margots Ergebnisse überprüfen konnte. Doch als ich nach meinen Hüftknochen und Rippen tastete, merkte ich selbst, dass ich abgenommen hatte – die Hüften waren seit meinem zehnten Lebensjahr nicht mehr so polsterfrei gewesen. Obwohl mich das einerseits wirklich froh stimmte, wusste ich andererseits nicht, wie es gekommen war. Jahre im Fitnessstudio hatten doch früher keinen Erfolg gezeitigt. Vielleicht hatte ich mir einen Bandwurm eingefangen?
Aber eins war sicher: Jetzt, da ich die Pfunde verloren hatte, nahm ich mir fest vor, sie mir nicht wieder anzufuttern. Keine Chips mehr, keine Kekse, und keine Snacks zwischen den Mahlzeiten. Und kein Essen bei den Mahlzeiten. Das müsste eigentlich reichen.
Und bevor ich wusste, wie mir geschah, war das Wochenende da, wir absolvierten den Kochkurs und den Spieleabend, und dann war es wieder Sonntag.
32
A n diesem Sonntag durfte ich Besuch empfangen. Ich hoffte, dass Anna kommen und eine kleine Auswahl an Drogen mitbringen würde. Ich hatte längst keine Angst mehr davor, dass sich Drogen in einem unangekündigten Bluttest zeigen würden. Im Gegenteil, wenn sie mich rauswarfen, umso besser.
Falls ich enttäuscht würde und Anna nicht käme, hatte ich einen Brief geschrieben, den Dad oder wer auch immer ihr zukommen lassen sollte. Er enthielt die Bitte, dass sie sich, mit einem Drogenpaket unter dem Arm, fliegenden Schrittes auf den Weg nach Wicklow machen solle.
Obwohl ich mich auf den Besuch freute, beunruhigten mich ein paar Dinge. Zum einen fürchtete ich mich vor dem Hohngelächter, in das Helen ausbrechen würde, wenn sie erführe, dass es kein Fitnessstudio, kein Schwimmbad und keine Massagen gab. Und dass sich zurzeit keine Berühmtheiten in Cloisters aufhielten.
Aber mehr noch fürchtete ich mich vor meiner Mutter und ihrem enttäuschten und märtyrerhaften Blick.
Vielleicht kommt sie ja nicht, dachte ich, und einen Moment
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