Rachel ist süß (German Edition)
Gangschaltung zählte hämisch die Sekunden, die mir noch bis zur nächsten Kollision mit der Welt des Radsports blieben. Jetzt konnte mich nur noch eine regional begrenzte Kurz-Eiszeit retten, die irgendwann Freitagabend hereinbrechen musste, so dass es keinem Outdoorausrüster gelang, bis Samstag eine dazu passende Mikrofaser zu entwerfen.
Ich versuchte es mit Ironie. „Toll! Ich hoffe, es sind nicht weniger als 200 km und die Strecke hat viele lange Anstiege.“ Sportliche Frauen sind gegen Ironie leider völlig immun.
„Keine Sorge! Es ist eine Strecke aus diesem neuen Buch Radstrecken für Anspruchsvolle . Da ist gar nichts Einfaches dabei.“ Sie strich mir liebevoll über die Haare und ich ließ mich zu den gefallenen Blättern auf den Boden sinken und sah ihr ängstlich beim Durchschalten aller 23 Gänge zu. Wie um mich zu verhöhnen, fühlte sich das Gras unter mir warm und trocken an, keine Spur von Raureif oder Bodenfrost. Ich schloss wehmütig die Augen und erinnerte mich.
Das Unheil hatte ganz leise im vorletzten Frühjahr begonnen, als zwei Mitglieder unserer friedlichen, lesbischen Bezugsgruppe zu einem Kaffeetrinken von Kopf bis Fuß in bunter, enganliegender Funktionskleidung erschienen waren und allen staunenden Anwesenden ungefragt erklärt hatten, sie seien den ganzen Weg mit dem Fahrrad gekommen. Damals fand selbst ich das nur ganz wenig bescheuert und irgendwie bewundernswert, also fiel ich mit den anderen in den lauten Jubelchor ein. Ich hatte das allerdings auch für eine einmalige Sache gehalten. Nicht, dass ich selbst nicht sportlich bin. Nein, nein! Ich liebe Outdoorkleidung und sehe äußerst gerne Sport im Fernsehen. Ich halte mich einfach nur von dem Teil des sportlichen Lebens ein wenig fern, der mit Bewegung zu tun hat. Eine Fahrradtour war für mich bis zu jenem denkwürdigen Tag die gerade Strecke zwischen der Eisdiele und dem Gartenlokal an einem warmen Sommertag.
Aus der einmaligen sportlichen Kaffeefahrt wurde allerdings zu meinem Leidwesen eine Freizeitaktivität, die sich wie eine Heilsbotschaft in unserer prämenopösen kleinen Welt ausbreitete. Innerhalb von wenigen Monaten wurden die rostigen Damenräder meiner Freundinnen, Ex-Freundinnen und Ex-Freundinnen meiner Freundinnen gegen Hightech-/All Terrain-/Trekking-/Mountainbikes eingetauscht, bei denen es zu jedem Bauteil eine eigene Zeitschrift zu geben schien. Helme, Handschuhe, Packtaschen, Regenkleidung, Windkleidung, Funktionsunterwäsche und Klickpedale wurden zur Pflicht, bevor ich auch nur gelernt hatte, Shimano richtig auszusprechen.
Ich vokalisierte nicht nur langsamer als der Rest, ich war auch sonst argloser und bemerkte nicht, wie sich die Fäden meines sozialen Netzes um mich zuzogen. Als mir kurz vor meinem vierundvierzigsten Geburtstag und nach einem vegetarischen Fondue von einigen forschen Radlerinnen eine Wasserwaage zwischen die Oberschenkel geschoben wurde und sie mich aufrecht stehend gegen die Wand lehnten, war ich mit den Gedanken auf einem thematisch dem Radsport nicht verwandten Feld. „Das haben wir doch gemacht, um die optimale Rahmenhöhe für dich zu finden!“, verkündeten sie mir strahlend im Chor, als das neue Trekkingbike die vierundvierzig Kerzen auf meinem Geburtstagskuchen ein paar Wochen später mühelos überstrahlte. Mein seltsamer Ritt auf der Wasserwaage war offensichtlich Teil eines geheimen Initiationsritus gewesen und hatte mich ohne mein Wissen in den Rang einer Pedalritterin erhoben. Oder eher eines Pedalknappen, denn ich bekam als Novizin nur eine einzige Packtasche zugeteilt und jeder Zugang zum topographischen Kartenmaterial, das mir Auskunft über das Streckenprofil hätte geben können, war mir streng verwehrt.
So strampelte ich denn von da an mit dem Rest der Tafelrunde leise jammernd und orientierungslos in wattierter Hose durch meine Heimat. (Die ich übrigens für wesentlich flacher gehalten hatte, als ich noch unwattiert in meinem Kleinwagen umhergefahren war.) Statt rheinischem Sauerbraten bot man mir nun sonntags belgischen Kreisel* und ich war nicht sicher, ob das ein guter Tausch war.
Schon nach wenigen Touren wurde mir allerdings die Ehre zuteil, beim streng geheimen Balzritual der Bikerinnen zuschauen zu dürfen und ich muss zugeben, ich war gerührt.
Es war ein Tanz aus Harmonie, Fliehkraft und Schwerkraft, der sich mir offenbarte, als ich bei einer geführten Radwanderung Zeugin wurde, wie es eine gute Freundin,
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