Rachel ist süß (German Edition)
waren klassische Götterlieblinge, wenn man Goethes Versen glauben durfte. Meine verkrampften Lider flehten um Gnade, und ich schlug die Augen wieder auf. Gut, wir nehmen eure Version, sagte ich zur Realität und zur Tür und machte mir zur Abwechslung einfach mal klar, dass meine heimliche Geliebte mich soeben verlassen hatte. Ihr Profil hatte im Weggehen einen Augenblick wie eine dieser schwarzen Jahrmarktsscherenschnitte mit zu vielen scharfen Linien ausgesehen, die wir bei unserem Besuch in Paris nicht hatten zeichnen lassen, weil wir Paris gemeinsam nicht besucht hatten. So wie wir auch nicht an südlichen Stränden unsere Hände ineinander verflochten oder uns tiefe Blicke über die Speisekarten versteckter Hafenrestaurants zugeworfen hatten. Sie hatte einen Mann, ein Haus, eine Firma und einen guten Ruf, und das machte den gesamten Planeten, mit Ausnahme meines Schlafzimmers, zu einem Ort, an dem sie alles verlieren konnte. Die Mehrzonen-Federkernmatratze, die ich eigentlich gekauft hatte, um meinen Rücken zu schonen, war dadurch zum einzigen Spielfeld geworden, auf dem ich den Kampf um diese Liebe hatte austragen können. Nur dort hatten sich die Gegensätze angezogen, ausgezogen und dann abgestoßen. Ich vermutete, dass unsere Chancen auf gemeinsames Glück mit jedem Liter Milch, den wir zusammen und vollständig bekleidet aus einem öffentlichen Kühlregal genommen hätten, stetig gestiegen wären. Oder auch nicht.
Ich war süß.
Sie hatte keinen Platz für mich.
Sie wollte Ruhe vor mir.
Empfindlichere Wesen hätten daraus möglicherweise geschlossen, dass sie zwar gut genug gewesen waren, einer verheirateten Frau die Freuden der lesbischen Sexualität näherzubringen, dass aber sonst keine größeren Emotionen mitgespielt hatten. Wie gut, dass ich nicht empfindlich war. Ich war süß wie die Rache und Kristall für süßes Kristall rieselte ich in Gedanken in ihr platzloses Leben. Auf den leeren Beifahrersitz, wenn sie morgens zur Arbeit fuhr, und auf den warmen Fahrersitz, den sie kurz frei machte, um den ersten Schüler einsteigen zu lassen. Ich streute mich in die kalte Ritze, die sie in der Nacht von ihrem Ehemann trennte, und eine feine weiße Spur folgte ihr bei jedem ruhelosen Schritt in der Dunkelheit über zu oft poliertes Parkett. Ich sah sie stehen und gehen, sich sehnen und weinen und lügen und schweigen und ließ sie wie zufällig auf meiner körnigen Zuckerspur ausrutschen und sich die Stirn an der Kante des Echtholzschrankes aufschlagen. Das Blut, das ihr rot und dick die Stirn hinablief, besänftigte mich, und ich schlief ein.
Nach dem Duschen am späten Mittag wurde mir klar, dass ich zwei Möglichkeiten hatte. Entweder, mich von Liebeskummer wie von Dornenranken in hundertjährigem Schlaf umwuchern zu lassen oder eine Weile auf Metaphern zu verzichten und einfach ein wenig Schaden anzurichten. Ich entschied mich für den Schaden und kontrollierte im Spiegel die Mischung aus femininer Unschuld und jungenhaftem Übermut, die ich zu diesem Anlass zu tragen gedachte.
Meine platzlose Geliebte beugte sich gerade gemeinsam mit einem Schüler über ein Schriftstück und ich spürte sofort wieder, wie unsere Hände in den ersten Theoriestunden zu beiden Seiten eines Bogens mit Vorfahrtsregeln und Parkverboten nervös aufeinander gelauert hatten. Wie sich unsere Zeigefinger kurz und prickelnd über dem Bußgeldkatalog berührt hatten, während sie mir die Strafe für die Unterschreitung des Mindestabstands erklärte.
Als sie aufsah, hatte ich schon ihren Mann begrüßt, der hinten aus dem hinteren Büro kam und sich sichtlich freute, mich wiederzusehen.
„Motorradführerschein? Da sind Sie also doch noch auf den Geschmack gekommen. Das ist eine wundervolle Idee!“ Er war begeistert. Ich auch. Sie nicht. Dem unbekannten Schüler war es egal.
„Wie lange ist das jetzt her mit ihrem Führerschein? Zwei Jahre schon? Wie die Zeit vergeht …“
… und wie sie stillsteht …
Während er nach hinten eilte, um ein Anmeldeformular zu holen, froren seine Gattin und ich gemeinsam in einer eisigen Zeitscholle fest. Ich süß lächelnd, sie sichtlich entsetzt. Tick! Tick! Tick! … machte die große Uhr über der Tafel mit den Verkehrsschildern, als wollte sie uns an die Gesetze von Zeit und Raum erinnern. Der Schüler neben ihr wurdeunruhig und nahm seinen Übungsbogen vom Tisch.
„Ich schaue mir das dann zu Hause noch mal an“, sagte er im
Weitere Kostenlose Bücher