Rachelust - Der sechste und letzte Fall für Nora und Tommy
sie sich mit einem Mann verabredet hatte. Zwar war dies kein Date, aber die ganze Situation wirkte trotzdem ungewohnt auf sie. In welche Richtung würde sich diese Bekanntschaft entwickeln? Wer war Hans wirklich? Mit etwas Glück könnte sie ihn schon bald als neuen Freund bezeichnen. Oder sein Charme war doch nur aufgesetzt und er entpuppte sich als Enttäuschung.
Das werde ich schnell herausfinden. Bei einem offenen Gespräch.
„Es tut mir leid, dass ich spät dran bin. Auf dem Weg hierher bin ich einer älteren Dame begegnet, die umgeknickt war. Daher habe ich ihr auf die Beine geholfen und einen Arzt verständigt.“ Mit dieser Entschuldigung begrüßte Hans die Kommissarin, als er um 11 Uhr 25 in die Lobby des Hotels kam. Er trug eine Jeans zu einem gestreiften Hemd. Die Haare hatte er zum Seitenscheitel gekämmt.
„Das macht überhaupt nichts“, sagte Nora. „Es sind ja erst ein paar Minuten.“
„Möchten Sie direkt an den Strand gehen?“
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
„Ganz und gar nicht. Ich liebe den Strand und das Meer.“
Sie gingen hinaus in die Nachmittagssonne. Als sie den Sandstrand erreichten, begann Hans: „Sie haben mir gestern erzählt, dass sie einen Menschen im Einsatz getötet haben. Ich habe darüber nachgedacht und mir die Frage gestellt, ob dieser Vorfall nicht unter die Rubrik Notwehr fällt?“
„Es war definitiv Notwehr. Der Mann hatte seine Pistole auf mich und meinen Partner gerichtet. Auch seine Komplizen waren bewaffnet. Aber es ist auch nicht der juristische Aspekt, der mich so beschäftigt. Ich habe einen Menschen erschossen. Es ist ganz egal, ob das aus Notwehr geschah oder nicht.“
„Es geht also um Ihr Gewissen? Die emotionale Seite macht Ihnen zu schaffen?“
Nora nickte. Während die beiden an mehreren Strandkörben vorbeistapften, erklärte sie: „Ich bin Polizistin geworden, weil ich Menschen beschützen möchte. Ich will ihnen helfen. Aber ich habe offenbar unterschätzt, zu welchen Maßnahmen ich in diesem Beruf gezwungen werden kann. Niemals hätte ich gedacht, einen Mann erschießen zu müssen, um ein anderes Leben zu retten. Ich bin immer davon ausgegangen, dass ich im Notfall einen Schuss ins Bein abgeben könnte. Zwölf Jahre lang funktionierte das auch ohne Probleme. In zwei oder drei brenzligen Situationen habe ich jemanden angeschossen. Das war alles. Doch jetzt ist es anders. Dieser eine Vorfall überschattet alles Vorherige.“
„Ja, das ist ein Phänomen. Eine schlechte Tat wiegt für uns Menschen mehr als zehn gute. Dabei machen wir uns selbst die größten Vorwürfe.“
„Zu allem Überfluss habe ich erst einige Monate zuvor eine bittere Erfahrung machen müssen. In meinem Privatleben.“
„Was war passiert?“
„Mein ehemaliger Lebensgefährte Timo starb bei einem Autounfall. Ich weiß bis heute nicht, ob es sich dabei um einen Mord handelte.“
„Mord? Wie kommen Sie darauf?“
„Nachdem Timo gestorben war, erhielt ich eine merkwürdige Nachricht. Sie stammte höchstwahrscheinlich von meinem Exmann Max. Er deutete an, mit dem Unfall in Verbindung zu stehen.“
„Wieso hätte er Timo töten sollen?“
„Um ihn aus meinem Leben zu streichen und selbst wieder an meine Seite zu kommen.“
„Mein Gott“, flüsterte Hans schockiert. „Aber Sie sind sich dessen nicht völlig sicher?“
„Nein, und ich werde wohl auch nie erfahren, was wirklich geschehen ist.“
„Das können Sie nicht wissen.“
„Doch, denn mein Exmann ist mittlerweile ebenfalls tot.“
„Hatte er auch einen Unfall? Oder war er schwerkrank?“
Nora sah zum Meer. „Ich habe ihn getötet.“
Jetzt herrschte Stille. Dieser Satz hatte gesessen. Für die nächsten fünfzehn Meter sagte Hans kein Wort mehr. Er schien all diese Informationen erst einmal verdauen zu müssen.
„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll“, murmelte er schließlich. „Sie haben ganz offensichtlich sehr viele Schicksalsschläge in kurzer Zeit ertragen müssen. Denn Sie haben Ihren Exmann doch hoffentlich nicht mit Absicht -?“
„Um Himmels willen, nein. Auch das geschah in Notwehr“, unterbrach Nora ihn schnell. „Er hat mich angegriffen, als er betrunken war. Ich konnte ihn mir kaum vom Leib halten. Bei einer Rangelei kam es zum tödlichen Schuss. Zum Glück haben die späteren Untersuchungen ergeben, dass ich tatsächlich in Notwehr gehandelt habe. Sonst wäre ich womöglich noch verurteilt worden. Dabei war es Max, der mein Leben zur Hölle gemacht hat.
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