Racheopfer
Hand.
Sie hatte es geschafft.
22
David war erst ein paarmal in der Kammer des Schreckens gewesen, und das auch nur, weil es sich nicht vermeiden ließ. Selbst da hatte das Geschoss mit den Neonlampen unter den Decken und den vernagelten Kellerfenstern, durch die kaum Tageslicht fiel, kalt und beängstigend auf ihn gewirkt. Jetzt aber, wo die Stromversorgung des Flügels abgeschaltet war, wirkte der Keller noch bedrohlicher - wie ein makabres Verlies, in dem noch immer die gequälten Schreie der Menschen hallten, die den brutalen Methoden der damaligen Zeit zum Opfer gefallen waren. Zu den beliebtesten Eingriffen hatte die Lobotomie gehört, eine Operation, bei der ein Eispickel durch die dünne Knochenschicht hinter der Augenhöhle gestoßen wurde. Die grausame Methode schädigte das menschliche Gehirn unwiderruflich, doch die behandelten Personen waren danach gefügig und leicht zu lenken.
In einem Buch über die Geschichte der Klinik hatte David gelesen, dass noch Ende der Vierzigerjahre in den Vereinigten Staaten jährlich etwa fünftausend Lobotomien vorgenommen worden waren. Er hatte diese Methode stets als barbarisch und unmenschlich betrachtet, doch wenn er an Ackermans Taten dachte, gönnte er dem brutalen Killer genau diese Behandlung.
Die dunklen Korridore und Räume der Kammer des Schreckens waren beinahe unverändert geblieben, seit man die Abteilung in den Fünfzigerjahren geschlossen hatte. Kaum war der neue Trakt fertiggestellt, überstiegen die Kosten für Renovierung und Modernisierung rasch die eines Neubaus. Das alte Kellergeschoss verfiel, und die Verwaltung hatte nur zu gern die Türen abgesperrt und die Untaten vergessen, die in den verfallenden Behandlungszimmern verübt worden waren.
Obwohl ein Teil des Bereichs als Lagerhalle benutzt wurde, befand der Keller sich weitgehend in dem gleichen Zustand wie vor einem halben Jahrhundert, als man um sich tretende, schreiende Patienten in Zwangsjacken dorthin gezerrt hatte. In einigen Zimmern standen noch die alten Untersuchungstische, Behandlungssessel und Geräte. David vermutete, dass die Wände und der Fliesenboden früher von einem antiseptischen Weiß gewesen waren, doch mit den Jahren waren sie nachgedunkelt. Jetzt erschien alles grau und schäbig, die Farben zu blass wie in einem Film, der in der Schwarz-Weiß-Ära spielen sollte.
David schüttelte sich den Regen von Kopf und Schultern und stieg widerstrebend die Treppe hinunter. Vor der Kellertür stand das Wasser fast meterhoch. Er hatte erwogen, einfach die Hintertür zu verrammeln oder dort auf Ackerman zu warten, fürchtete aber, den Killer dadurch zurück in die Klinik zu treiben, wo er noch mehr Unschuldige töten oder verletzen würde. Es war vermutlich besser, Ackerman im menschenleeren Teil des Gebäudes zu stellen, ehe er in die umliegenden Wälder entkam.
Der Eingang am Fuß der Hintertreppe diente als Kontrollposten. Dahinter teilte sich der Gang in zwei Korridore, die jeweils mit einem Eisengitter verschlossen waren. Leider hatte David keine Ahnung, welchen Weg Ackerman genommen hatte.
»Ferris, nehmen Sie den Doc mit, und überprüfen Sie den rechten Gang«, wies er seinen Stellvertreter an. »Bleiben Sie in ständigem Funkkontakt. Wenn Sie Ackerman sehen, versuchen Sie auf keinen Fall, es allein mit ihm aufzunehmen. Halten Sie ihn auf, und rufen Sie mich. Wir nehmen den Kerl dann gemeinsam fest. Haben Sie verstanden?«
Ferris zitterte, obwohl er dagegen ankämpfte, und sein Repetiergewehr klapperte gegen sein Gürtelschloss. Als David ihm ins Gesicht sah, wirkte Ferris mit einem Mal jünger und zerbrechlicher. Beinahe erinnerte er an einen kleinen Jungen. David fragte sich, ob er seine Ängste und Unsicherheit auf Ferris übertrug.
Er legte Ferris eine Hand auf die Schulter. »Wir kommen hier schon durch. Behalten Sie kühlen Kopf, dann kann nichts schiefgehen.«
David hätte gern geglaubt, was er da sagte, doch ein flaues Gefühl im Magen strafte seine hoffnungsvollen Worte Lügen. Aber er versuchte, sich seine Zweifel nicht anmerken zu lassen. Er musste Ferris’ Entschlossenheit stärken, und sei es mit gespielter Zuversicht.
Ferris nickte bedächtig.
Ohne ein weiteres Wort trennten sie sich und machten sich auf den Weg durch die finsteren Gänge des alten Kellergewölbes.
23
Das Wasser konnte gar nicht so kalt gewesen sein, wie es sich anfühlte. Ferris fragte sich, ob sein Zittern nur vom Adrenalin herrührte. »Halten Sie das!«, befahl er Kendrick und
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