Rachesommer
»Haben Sie Lust, sich dort mit mir zu treffen?«
23
Der kleine idyllische Waldfriedhof in der Koburger Straße lag in der Nähe des Cospudener Sees. Martin Horners letzter Weg von seinem Zimmer in der psychiatrischen Anstalt ins Armengrab hatte mit dem Leichenwagen gerade mal ein paar Autominuten gedauert.
Pulaski parkte seinen Skoda vor dem Eingang des Friedhofs. Sonja Willhalm wartete bereits vor dem Tor. Wie gestern waren ihre Haare hochgesteckt. Sie trug Modeschmuckketten über der Bluse und einen eng anliegenden Rock. Für ihr Alter hatte sie eine verteufelt gute Figur.
Als er sie erreichte, hielt sie ihm einen Styroporbecher mit schwarzem Kaffee und ein in Klarsichtfolie verpacktes Käsesandwich entgegen.
»Vegetarier, nicht wahr?«
Dankend nahm er beides entgegen. »Erinnern Sie mich beizeiten daran, dass ich Ihnen ein Abendessen schulde.«
»Ich warne Sie, ich komme darauf zurück.«
»Das hoffe ich.« Sie lächelte.
Wie lange war es her, seit er das letzte Mal mit einer Frau geflirtet hatte? Mein Gott, Jahre! Und nun musste es ausgerechnet vor einem Friedhof passieren. Der Anblick der Grabreihen, der Kerzen, Kränze und Inschriften auf den Marmortafeln erinnerte ihn an Karins Beerdigung. Einmal im Monat besuchte er ihr Grab, meistens zu einem Zeitpunkt, an dem seine Tochter entweder in der Schule oder bei Freunden war. Sie sollte nie erfahren, dass er ihre Mutter maßlos vermisste und wie ein Hund litt.
Sie gingen an dem Friedhofswärterhaus vorbei. Zahlreiche Sträucher und Heckenreihen säumten die Kieswege. Die Sonne blinzelte durch das dichte Blätterwerk der Bäume, die den Friedhof umgaben. Wie gestern knickte die Therapeutin eine Blüte ab und rollte die Blätter gedankenverloren zwischen den Fingern.
Pulaski zeigte ihr den Computerausdruck von dem grauhaarigen Mann.
»Ist das etwa die Mauer an der Rückseite der Anstalt?«, fragte Willhalm. »Ja. Kennen Sie den Mann?« Sie schüttelte den Kopf. »Sollte ich?«
Er erzählte ihr, dass Martin Horner und Natascha Sommer vor zehn Jahren im Abstand weniger Tage in das Klinikum Bremerhaven eingeliefert und vom selben Arzt behandelt worden waren. An Martins komplette Krankenakte war er immer noch nicht herangekommen. Das entsprechende Formular, das Chefarzt Steidl von seiner Schweigepflicht entband und Pulaski Einsicht in die Akte gewähren würde, lag auf seinem Schreibtisch im Kommissariat. Die Unterschriften von Fux und dem Staatsanwalt fehlten noch.
»Kannten sich Martin und Natascha von früher?«, fragte er.
»Solange Natascha bei mir in Therapie war, hat sie nicht ein Wort gesprochen. Sie lebte zurückgezogen und hatte kaum Kontakt zu anderen Patienten. Ich habe nie eine mögliche Verbindung zu Martin gesehen. Schließlich wurde sie erst nach einem achtzehn Monate dauernden Bürokratiekrieg in die Psychiatrie Markkleeberg überwiesen. Vielleicht ist es ja ein Zufall, dass beide vor zehn Jahren in Bremerhaven erstbehandelt wurden.«
»Mag sein, aber ist es auch Zufall, dass beide zehn Jahre später innerhalb weniger Tage sterben?«
Willhalm schwieg. Sie kamen an einem Brunnen vorbei, vor dem ein gutes Dutzend Blechgießkannen stand. Von weitem drang das Geräusch eines Spatens zu ihnen, der in die Erde gestochen wurde. Schon bald würden sie hören, wie das Schaufelblatt auf einen Sargdeckel traf.
Pulaski biss von dem Sandwich ab und nippte an dem Kaffee. »Weswegen kam Martin in die Anstalt?«
Sie hob die Schultern. »Weswegen kommt man schon in so eine Anstalt? Ein Opfer, das an der Gewalt zerbrochen ist, die man ihm angetan hat.«
»Im Stammdatenblatt stand, dass er als Kind ebenfalls missbraucht worden ist.«
»Martin wurde von meiner Kollegin betreut. Soviel ich weiß, kennen wir auch bei ihm nicht die Details, die zu seiner Traumatisierung geführt haben. Auf Grund der Vorfälle in seiner Kindheit hat er eine dissoziative-lokalisierte Amnesie entwickelt.«
Offensichtlich hatte sie Pulaskis Blick bemerkt, da sie rasch fortfuhr. »Das bedeutet, dass er sich an die sexuellen Übergriffe nicht mehr erinnern konnte. Fest steht, dass er - ebenso wie Natascha - unter einer Identitätsstörung litt.«
»Multiple Persönlichkeit?«
»Das ist der alte Begriff dafür. Die Therapie mit solchen Klienten ist schwieriger als mit anderen. Diese Kinder haben alles durchgemacht, was sich kranke Menschen an Qualen, Züchtigungen oder sexuellem Missbrauch nur ausdenken können.«
»Was könnte Martin zugestoßen sein?«
Erneut hob
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