Rachmann, Tom
Zeitungspapier, die Arbeiter rollten sie die
schräge Heckklappe hinunter und rammten sie in die Ladeöffnung der Presse,
wobei das ganze Gebäude bis hoch in den dritten Stock erzitterte. Alle
Journalisten, die es sich da oben gerade gemütlich machten - mit gegenseitigen Frotzeleien,
die Füße auf dem Tisch, den Hut auf der Schuhspitze balancierend, die Zigarette
im Aschenbecher vor sich hin glimmend -, schossen in jäher Panik hoch.
»Scheiße, ist es schon so spät?«
Wie durch ein Wunder war
dennoch zum Redaktionsschluss abends um zehn jede Zeile jeder Spalte voll,
aller Herzraserei und Flucherei in letzter Minute zum Trotz. Textredakteure
standen nach Stunden zum ersten Mal wieder von ihrem Platz auf, zogen die
gemarterten Schultern zurecht, atmeten versuchsweise auf.
Die meisten der Journalisten
waren Männer, hauptsächlich Amerikaner, ein paar auch Briten, Kanadier und
Australier. Sie lebten schon bei der Einstellung alle in Italien und sprachen
die Landessprache. Im Newsroom allerdings herrschte strikte Anglophonie. Jemand
hatte ein Schild an die Fahrstuhltür gehängt: »Lasciate ogni
speranza, voi ch'uscite - da draußen ist Italien.«
Wenn einer von ihnen mal nach
unten fuhr, um etwas zum Essen zu holen, sagte er: »Ich bin mal eben in
Italien, braucht jemand was?«
Das erste volle Geschäftsjahr
1954 quoll fast über vor Nachrichtenstoff: die McCarthy-Anhörungen, die
sowjetischen Atomtests, das Rekordhoch von 382 Punkten, mit dem der Dow Jones
schloss. Anfangs litt die Zeitung unter dem Verdacht, bloß ein internationaler
Werbeträger für Otts Firmenimperium, zu sein, aber das war unbegründet. Den
meisten Einfluss auf Inhalte übte die Not aus - jede Seite hatte Löcher, und
die wurden mit jedem annähernd nachrichtenwerten Wortgeklingel gestopft,
Hauptsache, es enthielt keine Kraftausdrücke, die schienen sich die
Journalisten für den redaktionsinternen Eigengebrauch vorzubehalten.
Betty und Leo führten den
redaktionellen Betrieb gemeinsam. Er sagte gern: »Ich kümmere mich ums große
Ganze.« Aber schreiben - oder umschreiben - tat Betty die meisten Texte. Sie
hatte einen völlig unangestrengten Umgang mit Prosa. Ott seinerseits kümmerte
sich um, die finanziellen Dinge und gab Ratschläge, wenn er darum gebeten
wurde, was oft geschah. Dafür rasten Betty und Leo durch den ganzen Newsroom, jeder
von beiden wollte als Erster bei Ott im Büro sein. Ott hörte andächtig zu, den
Blick fest auf dem Teppichboden. Dann sah er hoch, ließ die blassblauen Augen
zwischen Betty und Leo hin- und herhuschen und verkündete seine Haltung dazu.
Die drei kamen blendend
miteinander aus. Heikle Augenblicke gab es tatsächlich nur, wenn Ott einmal
außer Haus war, dann redeten Betty und Leo miteinander, als hätten sie sich
gerade eben kennengelernt, und beäugten die Tür, bis ihr Verleger wieder da
war.
Ott war normalerweise
gnadenlos profitorientiert. Die Zeitung allerdings war eine Anomalie, nämlich
finanztechnisch höchst anrüchig. Drüben in den Vereinigten Staaten wurde sein
italienisches Abenteuer von den Geschäftsrivalen mit Misstrauen beobachtet - da
steckt doch irgendwas dahinter, argwöhnten sie.
Falls ja, war der Zweck alles
andere als klar.
Ott weihte Betty und Leo nie
in seine geschäftlichen Pläne ein und blieb in persönlichen Dingen noch
undurchsichtiger. Er hatte eine Frau, Jeanne, und einen kleinen Sohn, Boyd,
aber warum die in Atlanta geblieben waren, erzählte er nie. Leo versuchte immer
mal wieder, Einzelheiten herauszukitzeln, aber er schaffte es nicht - Ott besaß
die Fähigkeit, in Unterhaltungen einfach einen Punkt zu setzen, wann und wo er
wollte.
N eue S tudie: E uropäer sind faul
Hardy
Benjamin, Reporterin Wirtschaft/Finanzen
HARDY HÄNGT DEN GANZEN MORGEN AM TELEFON und
schmeichelt zitierbare Sätze aus maulfaulen Finanzanalysten in London, Paris
und Frankfurt. »Kommt da also demnächst eine Zinserhöhung?«, fragt sie. »Wird
Brüssel die Sonderzölle auf Schuhe ausweiten? Was ist mit der unausgeglichenen
Handelsbilanz?«
Sie bleibt unerschütterlich
liebenswürdig, auch wenn ihre Gesprächspartner es ganz und gar nicht sind.
»Hardy, ich hab zu tun. Was
brauchst du jetzt wieder?«
»Ich rufe auch gern später
an.«
»Ich hab jetzt zu tun, ich hab
später noch mehr zu tun.«
»Sorry, wenn ich nerve. Wollte
nur mal hören, ob du meine Nachricht gehört hast.«
»Ja, richtig - du machst schon
wieder was über China.«
»Geht ganz schnell, ich
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