Rachmann, Tom
es sein Vater auch
gemacht.
Zumindest dachte Boyd das.
Er hatte den Alten eigentlich
kaum gekannt, denn als der nach Europa ging, war Boyd elf. In den
sagenumwobenen Frühzeiten, als Ott senior aus dem Nichts ein Imperium geschaffen
hatte, war Boyd noch nicht mal geboren. Das meiste, was er darüber wusste,
stammte von allerlei Nutznießern, die am Familienvermögen herumknabberten.
Aber genau diese Mythen
trieben ihn an. Boyd war kühn, weil sein Vater kühn gewesen war, und stolz,
weil das auch Otts Stil gewesen war. Nur dass seiner Kühnheit die Freude und
seinem Stolz die Würde fehlte. Er inszenierte sich als Mann des Volkes, wie
sein Vater einer gewesen war. Das Volk allerdings traute Boyd nicht über den
Weg, und im Gegenzug verachtete er es.
D er W ahn hat U ran
Ruby Zaga,
Textredakteurin
DIESE Wichser haben ihr schon wieder den Stuhl geklaut, ihren Stuhl,
für den sie sechs Monate gekämpft hatte. Unglaublich. Einfach unglaublich,
diese Leute. Sie fahndet im ganzen Newsroom danach, den Kopf voller blubbernder
Schimpfkanonaden, die stoßweise laut nach draußen platzen. »Schwanzköpfe«,
murmelt sie dann. Das Beste war, einfach weg hier. Kündigung einreichen. Nie
wieder einen Fuß hier reinsetzen. Die Idioten hier in ihrem Dreck schmoren
lassen.
Halt mal, stopp! Ja, da steht
er: ihr Stuhl - da drüben, hinterm Wasserspender. Sie läuft hin und packt ihn.
»Sollen sich verdammt noch mal selber einen besorgen.« Sie rollt ihn an seinen
rechtmäßigen Platz am Produktionstisch, schließt die Schublade auf und packt
ihr Arbeitsgerät aus: das Kissen für den unteren Rücken, die Armstütze, eine
ergonomische Tastatur samt Maus, Handgelenkschoner gegen Tennisarm, Tücher
gegen Bakterien. Sie desinfiziert die Tastatur und die Maus. »Hier kommt
einfach kein Gefühl von Sauberkeit auf.«
Sie stellt die Stuhlhöhe
wieder richtig ein, platziert das Kissen an der richtigen Stelle und setzt
sich. »Widerlich.« Der Sitz ist noch warm. Da hat jemand draufgesessen.
»Einfach weg hier.« Im Ernst. Das war doch mal was. Die ganzen Nieten hier
nicht mehr sehen müssen.
Die Zeitung ist der einzige
Arbeitsplatz, den Ruby Zaga kennt. Sie hatte gleich nach dem Ausstieg aus der
Promotion in Theologie hier angefangen. Damals war sie siebenundzwanzig und
hatte sich bewusst ein unbezahltes Praktikum für einen Sommer ausgesucht.
Jetzt, mit sechsundvierzig, ist sie immer noch hier und redigiert anderer
Leute Texte, ihr Nervenkostüm ist darüber dünner geworden, ihr Körper
massiger, nur ihr Outfit ist immer noch dasselbe wie 1987: Armreifen, silberne
Riesenohrringe, mit übergroßen Gürteln geraffte Strickkleider, schwarze
Leggings, weiße Stoffturnschuhe. Es ist nicht nur stilistisch dasselbe, oft
sind es noch die Klamotten von damals, voller Fusselknötchen, die Farben
verwaschen.
Ruby kommt immer extrafrüh zur
Schicht, denn dann ist der Newsroom leer bis auf Menzies, aber der geht wohl
nie. Bedauerlicherweise trudeln nach und nach die Kollegen am Produktionstisch
ein. Als Erster kommt heute Ed Rance, der die Texte ins System stellt, aus dem
Fahrstuhl gestürmt, seine Nase läuft, und mit einer Hand wedelt er unter
seiner feuchten Achsel herum. Er kommt immer mit dem Fahrrad zur Arbeit und
schwitzt enorm, weshalb seine Khakihose fleckenmarmoriert ist. Ruby denkt nicht
daran, ihm die Chance zum Nichtgrüßen zu geben - sie wird nicht als Erste
grüßen. Sie rennt auf die Toilette, schließt sich in der Kabine ein und zeigt
der Tür den Stinkefinger.
Erst nach Schichtbeginn taucht
sie wieder am Tisch auf.
»Versuch's einfach mal mit
Pünktlichkeit«, sagt Ed Rance.
Sie knallt mit ihrem Arsch auf
den Stuhl. Ed Rance und Dave Belling, der andere Redakteur vom Dienst, lesen
die Frühausgabe gegen. Ed Rance schiebt Ruby die hinteren Seiten zu - die
ödesten -, dann flüstert er Dave Belling etwas zu. Beide lachen. »Was?«, fragt
Ruby.
»Wir reden nicht über dich,
Rube. Um dich dreht sich nämlich nicht die ganze Welt, Rube.«
»So, ja. Kann ich echt drauf
verzichten.«
Sie reden tatsächlich nicht
über sie, sondern über Saddam Hussein. Heute ist der 30. Dezember 2006, Saddam
ist im Morgengrauen gehenkt worden, und die beiden vergnügen sich damit, im
Internet nach Videos von der Hinrichtung zu suchen.
Währenddessen sammeln sich die
Ressortleiter um den Layout-Tisch, um die Titelseite festzulegen. »Haben wir
Bilder?«
»Von was? Diktator am Strick?«
»Was haben die
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