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Radau im Reihenhaus

Radau im Reihenhaus

Titel: Radau im Reihenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Evelyn Sanders
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Augenblick bedauerte ich das keineswegs, denn Rolf hockte in seinem alten Bademantel und unrasiert am Tisch, an den Füßen die ausgelatschten Pantoffeln, die aussahen, als hätte er sie vor fünf Jahren im Schlußverkauf erstanden. Was im übrigen auch stimmte. Unvorstellbar, wenn er sich in diesem Aufzug auf die Terrasse setzen würde! Immerhin hatte ich schon vor anderthalb Stunden Herrn Vogt zur Garage schreiten sehen, korrekt gekleidet vom Arbeitgeberhut bis zu den blankgewienerten Schuhen.
    »Was für Antrittsbesuche?« knurrte mein Gatte denn auch mürrisch. »So was war zu Kaiser Wilhelms Zeiten vielleicht üblich, aber heutzutage doch nicht mehr.« Er haßt alles, was mit Etikette zu tun hat, und scheut sich nicht im geringsten, in Khakihosen auf eine Cocktailparty zu gehen. Wenn er überhaupt hingeht!
    »Na ja, in Großstädten macht man das nicht mehr, aber wir leben jetzt auf dem Land, da ist man doch in allem ein bißchen zurück«, gab ich zu bedenken. »Außerdem wohnen wir hier in so einer Art Getto, die anderen kennen sich alle schon, und wenn wir uns überhaupt nicht rühren, heißt es vielleicht, wir seien hochnäsig.«
    »Na und? Laß sie doch reden, was sie wollen. Du hast dich doch sonst nie um die Meinung anderer Leute gekümmert.«
    »Das war auch etwas anderes. Aber wenn du künftig wieder tagelang unterwegs bist, muß ich doch wenigstens mal mit jemandem reden können!«
    »Ich schenk dir einen Papagei!« erwiderte mein Gatte bereitwillig. Dann lenkte er ein: »Wenn du glaubst, es ist deinem Ansehen förderlich, daß wir vor jeder Haustür Männchen bauen, dann werde ich mich sofort in Gala werfen. Welchen Anzug hältst du für angemessen? Genügt der dunkle?«
    »Wir gehen ja nicht zur Beerdigung. Und überhaupt ist es jetzt sowieso zu spät. Offizielle Besuche erledigt man zwischen elf und zwölf oder nachmittags zwischen fünf und sieben.«
    »Woher willst du das wissen?«
    »So etwas weiß man eben!« trumpfte ich auf, verschwieg aber, daß ich mir diese Information erst von Tante Lotti geholt hatte. Seit zwei Tagen besaßen wir wieder Telefon. Da hierfür nicht die Baugesellschaft zuständig gewesen war, hatte es mit dem Anschluß sofort geklappt, und ich fühlte mich der entrückten Zivilisation wieder ein Stückchen näher.
    Als erste hatte ich Tante Lotti angerufen. Sie wohnte in Berlin, war auf nur noch von ihr zu rekonstruierende Wiese mit mir verwandt und bedauerlicherweise alleinstehend. Ihr genaues Alter habe ich nie herausgebracht, aber da sie »mit einem sehr stattlichen Leutnant vom Garde du Corps in das zwanzigste Jahrhundert getanzt« war, mußte sie schon damals die Backfischjahre hinter sich gehabt haben. Auch über Tante Lottis geplatzte Verlobung und die daraus resultierende Ehe-Abstinenz wußte die Familienfama nur Ungenaues zu berichten. Der in Betracht gekommene Offizier soll adelig und arm gewesen sein, weshalb Tante Lotti als zwar bürgerliche, aber gutsituierte Kommerzienratstochter die passende Partie gewesen wäre. Leider war der Heiratskandidat so unvernünftig gewesen, sich in eine andere verarmte Adelige zu verlieben, worauf Vater Oberst seinen Sohn ins Ausland verbannt hatte. Von hier ab verloren sich die konkreten Spuren, und Tante Lotti hatte sich bis zu ihrem Tod beharrlich darüber ausgeschwiegen, ob der Bedauernswerte sich nun tatsächlich dem Trunk ergeben oder eine reiche Amerikanerin geheiratet oder sich hochverschuldet eine Kugel in den Kopf geschossen hatte.
    Zweimal im Jahr ging Tante Lotti ›auf Reisen‹, d.h. sie fing in Kiel an, wo eine Pensionatsfreundin von ihr lebte, und arbeitete sich dann kilometerweise nach Süden durch, bis sie bei ihrer Nichte in Bayrischzell landete. Zwischenstationen machte sie immer dort, wo sie Verwandte oder Bekannte aus längst vergangenen Zeiten aufgestöbert hatte, und die Dauer der jeweiligen Reise richtete sich nach der Geduld, die die Heimgesuchten aufbrachten. Die längste Besuchstour hatte sich über zehn Wochen hingezogen – allerdings nur aus dem für Tante Lotti sehr erfreulichen Grund, daß sich ihre Großkusine in Hanau das Bein gebrochen hatte. In ihrer Hilflosigkeit hatte sie sogar Tante Lottis Samariterdienste dankbar angenommen.
    Uns hatte sie bei ihrer diesjährigen Sommerexpedition ausgespart. Frühzeitig genug hatte ich sie von dem bevorstehenden Umzug informiert, worauf sie vor Mitgefühl übergeströmt war.
    »Du tust mir ja so leid, Liebes«, hatte sie mitleidig ins Telefon gezwitschert,

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