Radikal
das Gespräch. Sie hatten zuerst über Kairo gesprochen, weil Mohammed dorthin fahren wollte, für einProjekt, und natürlich auch, um die Familie zu besuchen. Stadtplanung: Für Mohammed hieß das, einen Kompromiss zu finden zwischen der Bewahrung dessen, was er für bewahrenswert hielt, Moscheen zum Beispiel, und der Notwendigkeit, den Menschen in der aus allen Nähten platzenden Metropole bezahlbare Wohnungen zu verschaffen.
»Aber weißt du, selbst wenn ich einen Plan hätte, dieses Regime ist so korrupt, ich müsste tausend Leute schmieren für jede einzelne Baugenehmigung, diese ungläubigen Heuchler.«
Samson hatte zugehört und mitgeschrieben. Irgendwelche Stichpunkte. In Wahrheit: irgendwelche Vorinterpretationen. Der Kampf im Kopf.
Und dann waren sie irgendwann auf die Erdbeeren gekommen.
Mit seinen Augenringen und dem brennenden Blick wirkte Mohammed selbst an einem guten Tag immer ein wenig abweisend. Aber die Erdbeeren waren für ihn die Verkörperung all dessen, was in Ägypten falsch lief. Samson erinnerte sich, dass er gedacht hatte: Viel angewiderter kann ein Mensch nicht gucken.
»Die Regierung sollte Weizen anbauen, nicht Erdbeeren! Kein Mensch in Ägypten kann sich Erdbeeren leisten! Die Menschen haben Hunger, aber wir bauen Erdbeeren an und importieren Weizen, und das auch noch aus Amerika , es ist eine Schande, es ist haram. «
Was, wenn Mohammed das mit den Erdbeeren nie erfahren hätte? Dass Ägypten Erdbeeren exportierte, an die reichen Länder des Westens? Dass der Gewinn in den Taschen irgendwelcher korrupter Beamter verschwand und nichts davon bei den Armen ankam? Natürlich war all das kein Geheimnis. Jeder konnte es wissen. Es war nur ein Detail. Aber für Mohammed war es ein so absurder Gedanke, ein solcher Frevel und Verrat, eine Schande, eine Sünde, ein Vergehen, dass er sich immer wieder darüber empören konnte, als hätte er es gerade erst erfahren.
Was also, wenn Ägypten keine Erdbeeren exportiert hätte?
Oder wenn Mohammed es aus irgendeinem Zufall nie gehört hätte?
Wäre er dann nicht nach Afghanistan gegangen?
Und in die USA , um Flugstunden zu nehmen?
Nein, natürlich nicht.
Es hätte ein anderes Detail gegeben, das für ihn alles ausgedrückt, umfasst, versinnbildlicht hätte.
Aber konnte man diese Kette denn wirklich immer weiter verlängern? Was, wenn er dieses andere Detail auch nie erfahren hätte?
Und jenes, welches ihn dann eben aufgeregt hätte, auch nicht?
Und das, welches ihn dann eben an dessen Stelle ergriffen hätte, ebenfalls nicht?
Samson wurde schwindelig. Er hatte keine Ahnung, wohin dieser Gedanke führte. Dass Mohammed Atta immer etwas gefunden hätte? Dass er nichts unternommen hätte, nicht zum Massenmörder geworden wäre, wenn er nichts gefunden hätte? Dass er nur dann nicht zur lebenden Bombe mutiert wäre, wenn es nichts zu finden gegeben hätte? Dass nur die Unaufmerksamen und Ignoranten davor gefeit sind, Terroristen zu werden?
Vielleicht sind es immer die Details.
Er dachte an einen anderen Mudschahid, einen Konvertiten aus Deutschland, der vor einigen Jahren gefasst worden war, nachdem er schon mit dem Bombenbauen begonnen hatte. In der Moschee, in der er immer gebetet hatte, hatte von einem Freitag auf den anderen der Familienvater gefehlt, der sonst immer drei Reihen vor ihm betete. Er war von der CIA entführt worden, wie sich später herausstellte. Es war ein Irrtum gewesen. Seitens der CIA . Aber der Familienvater war auf einmal weg gewesen. Monatelang. Niemand wusste, wo er war.
»Sie haben den Krieg in meine Moschee getragen«, hatte der Bombenbastler später vor Gericht erklärt. Das konnte man doch verstehen, irgendwie .
Besser als die Erdbeeren.
Besser als die Erdbeeren?
Er dachte an Missy. Er stellte sich vor, wie ihr tunesischer Ehemann sie verprügelte. Was, wenn er es nicht getan hätte? Aber er hatte es getan.
Er dachte an Sinn. An Khaldun. An den Baron. An Jeremias . Er hatte keine Ahnung, was sie radikalisiert hatte.
Aber er wusste ja in Wahrheit auch nicht, was Mohammed radikalisiert hatte.
Radikalisiert , was für ein merkwürdiges Wort.
Was, wenn wir alle auf eine Art nur Schläfer sind – bis wir unsere Erdbeeren finden?
***
Merle Schwalb war früh aufgewacht an diesem Mittwoch, schon um halb sieben. Kein Mensch im Prenzlauer Berg stand so früh auf, abgesehen vielleicht von den jungen Eltern, deren Kinder sich um diese Zeit gelegentlich meldeten, so wie es manchmal bei ihren Nachbarn der Fall
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