Radikal
war, wie Merle Schwalb ab und an durch die erstaunlich hellhörige Decke zu der Wohnung über der ihrigen feststellen konnte, aber meistens wachte sie davon nicht auf; und auch an diesem Tag war es nicht das Babygeschrei gewesen, das sie geweckt hatte. Auch nicht der Wecker. Eher eine Art innerer Unruhe. Diese Unruhe hatte sie wenig später auch aus dem Haus getrieben; aus irgendeinem Grund fühlte es sich besser an, unterwegs zu sein, so als würde Bewegung schon Fortschritt bedeuten, und sie musste ja vorankommen, es blieb nicht mehr viel Zeit, es war schon Mittwoch. Wieder ein Tag vergangen. Sie musste ein ganzes Stück laufen, denn am Helmholtzplatz, wo sie wohnte, hatte kein Café so früh schon geöffnet, und Merle Schwalb hatte keinerlei Vorräte in ihrer Wohnung, nicht einmal Kaffee.
Die Straßen waren so gut wie menschenleer. Sie ging schnell, und sobald ein Kiosk in Sichtweite kam, beschleunigte sie ihren Schritt noch mehr, denn von den Titelseiten der Zeitungen blickte unweigerlich Samson sie an, Samson über Samson, Samson neben Samson, Samson sich selbst verdeckend. Ein regelrechtes Kaleidoskop aus Samson-Bildern. Praktisch jede Redaktion im Land hatte offenbar die Nachdruckrechte an dem Bild gekauft, das der Globus am Vortag online veröffentlicht hatte. An ihrem Bild. Foto: privat. Was für ein Hohn. Sie war froh, dass sein Gesicht hinter der Tauchermaske wenigstens nicht zu erkennen war.
Aber sie wusste, dass Arno Erlinger und Lars Kampen von Samsons alter Schule und von dem Tauchclub auf Teneriffa, wo Samson einen Tauchschein gemacht hatte, längst andere Bilder besorgt hatten, die auch sein Gesicht zeigten und die in der Globus – Geschichteabgedruckt werden sollten. Erlinger, der sich ansonsten bedeckt hielt, hatte ihr die Aufnahmen gestern sogar gezeigt, damit sie ihm bestätigte, dass es wirklich Samson war; was sie ihm hatte bestätigen müssen, um keinen Verdacht zu erregen.
Am S-Bahnhof Schönhauser Allee wurde Merle Schwalb schließlich fündig, in einem gesichtslosen Backshop, was zwar deprimierend war, angesichts der schönen Frühstückscafés in ihrem Kiez, in denen sie sich sonst gerne ein Croissant und einen Milchkaffee bringen ließ, um in Ruhe die Zeitung zu lesen, bevor sie ins Büro fuhr. Aber jetzt, heute, in dieser Situation, war ihr das vollkommen egal, weswegen sie einen Automatenkaffee bestellte und dazu ein Wonnen-Weckli mit Camembert. Letzteres tröstete sie trotz des grotesken Namens irgendwie, oder genauer gesagt: gerade deswegen, denn es erinnerte sie daran, wie sehr Samson getaufte Backwaren verachtete, so wie er auch Werbung über Pissoirs verachtete oder Friseursalons mit Wortspielen in ihrem Namen, und das war wenigstens der Samson, den sie kannte, und nicht der Terrorist im Taucheranzug auf den Titelseiten.
Sie hatte ihren Block mitgenommen. Aber als sie ihn aufschlug, machte die leere Seite ihr sofort Angst. Um sie zu vertreiben, schrieb sie schnell einen Namen darauf: Dengelow .
Das war alles, was sie bisher hatten.
Es war so gut wie nichts.
Frederick Rieffen hatte diese Information angeschleppt. Gestern, als sie sich getroffen hatten: Sie selbst, Henk Lauter, und das dritte der Drei Fragezeichen, das heimlich die Mannschaft gewechselt hatte. Sie hatten sich darauf verständigt, sich nicht innerhalb der Redaktion zu treffen und auch nicht in unmittelbarer Nähe, sondern an einem Ort, an den ein Globus – Redakteur sich eher nicht verirren würde. Sie waren sich einig, dass es besser wäre, wenn man sie nicht zusammen sah. Wer konnte schon wissen, wie viele Zuträger Erlinger und Kampen hatten?
Ihre Wahl war auf die Kantine des Berliner Ensembles gefallen, in der mittags meist nur ein paar Bühnenarbeiter, Maskenbildner und ab und an ein Schauspieler oder eine Schauspielerin saßen. Sie hatten dreimal Gulaschsuppe bestellt, und Merle hatte das Gespräch damit eröffnet, dass sie rein gar nichts hatte.
»Alle Leute, die ich bei den Sicherheitsbehörden kenne, gehen entweder nicht ran oder haben mit völlig anderen Dingen zu tun«, hatte sie gesagt. »Ich hab außerdem noch in der JVA angerufen wegen einer Besuchserlaubnis, aber auch das ist auf absehbare Zeit völlig unmöglich. Und anscheinend hat Samson noch nicht einmal einen Anwalt, was bedeutet, dass wir keinen Kontakt mit ihm aufnehmen können.«
Sie hatte Henk angeschaut, aber der hatte ebenfalls sofort bedauernd den Kopf geschüttelt. Daraufhin hatten Merle und ihr Ressortleiter gemeinsam Frederick
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