Radikal
beschissenen Markt rollen, aber nein, ich bin auch nur einer von ihnen. Ich kaufe ein, wo sie einkaufen, ich kaufe ein, was sie einkaufen, was auch sonst, es ist ein heißer Sommertag in Berlin, es ist kurz nach siebzehn Uhr, und alle werden heute grillen, alle , und sie werden genau wie ich gleich am Eingang einen Sack Holzkohle einladen, und gleich werden sie neben mir am Fleischregal stehen, und wir alle werden marinierte Schweinenackensteaks kaufen, in Rot, also mit Paprika- oder Holzfällergeschmack, als hätte hier jemals jemand einen Baum gefällt, oder in Gelb, das ist exotisch, oder in Grün, das ist dann Toskana. Toskana. Wer jemals in der Toskana gewesen ist, dachte Dengelow, während er zwei Pakete grünes Fleisch einpackte, weil Agnes es mochte, und zwei in Gelb und zwei in Rot, weil er nicht wusste, was er selbst mochte oder Leo, wer jemals in der Toskana gewesen ist, dachte Dengelow, der kauft diese Scheiße vermutlich nicht. Ich bin aber nie in der Toskana gewesen. Er packte noch zwei Pakete eingeschweißte Wurst ein, mit Bärlauch, die Nachbarn kommen, die mögen das. Zur Sicherheit noch zwei Pakete Toskana. Und vergiss das Baguette nicht.
Vergesse ich nicht.
Agnes.
War seine Ehe, sein Vaterdasein, seine Karriere, war am Ende sein gesamtes Leben so vorhersehbar und normal und gewöhnlich wie seine Existenz als Verbraucher? Austauschbar. Handwarm. Gerade noch benutzt? Fast hätte Dengelow gelacht. Er war immer noch erstaunt über sich selbst. Darüber, wie wenig es ihm ausmachte, dass Agnes einen Liebhaber hatte. Oder gehabt hatte, wie sie betonte.
»Es ist mir egal«, hatte er ihr gesagt, so ruhig wie möglich. Nein, nicht so ruhig wie möglich. So ruhig, wie es eben aus ihm herauskam. Zu jeder höheren Frequenz hätte er sich zwingen müssen.
»Aber das kann dir doch nicht egal sein!«
»Ist es aber.«
»Ansgar, aber du weißt schon, dass das heißt, dass ich dir egal bin?«
»Nein, tut es nicht. Mir ist nicht egal, wer meinen Sohn erzieht. Mit wem ich in den Urlaub fahre. Mit wem Leo und ich Weihnachten feiern. Wem ich meine Sorgen erzähle. Wer morgens neben mir frühstückt. Aber wenn du mit jemand anders schläfst, ist mir das egal. Ich wusste das vorher nicht, jetzt weiß ich es.«
»Aber Ansgar, das ist schrecklich!«
»Nein. Finde ich nicht.«
Er sah Agnes an und sah, wie sie litt. Weil sie dachte, dass er sich in einen Zustand buddhistischer Gleichgültigkeit hineingesteigert hatte, um nicht an dem Schmerz zugrunde zu gehen, den sie ihm zweifellos zugefügt hatte.
»Ansgar, liebst du mich noch?«
»Ja, ich denke schon.«
»Ansgar, hast du vielleicht auch, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … eine Freundin ?«
»Nein.«
Dann war Leo hereingestürmt, direkt vom Fußballtraining, rotwangig, verschwitzt, er sah seine Eltern mit großen Augen an.
Blitzschnell wischte Agnes die Träne von ihrer Wange. »Ansgar, vergiss das Baguette nicht, ja?!«
Vergesse ich nicht.
Am Abend zuvor hatte sie ihm gesagt, dass sie eine Paartherapie wolle. Er hatte auf die Kosten verwiesen. Darauf, dass doch nichtsvorgefallen sei, was sie nicht untereinander klären könnten. Aber Agnes hatte beschlossen, dass das der Weg sein sollte. Also gut, hatte er schließlich gesagt, meinetwegen. Nur dass er nicht wusste, wie das gehen sollte. Er hatte nicht einmal seinem Bruder von seiner Ehekrise erzählt. Auch seinem besten und einzigen Freund nicht, der allerdings in Freiburg lebte. Er sprach nicht gerne über Persönliches. Wie sollte er da ernsthaft gegenüber einem Psychologen oder Mediator oder Schamanen oder was auch immer Agnes aussuchen würde, sein Innerstes offenlegen? Das war das eine. Und dann die Zeit. Rein zeitlich würde es schwierig werden. Wie sollte das gehen?
Vielleicht würde sie es sich noch einmal anders überlegen. Abwarten. Mindestens bis morgen, denn heute Abend würde Agnes das Thema nicht noch einmal anschneiden können, heute Abend würden Fuhrmanns herüberkommen von nebenan, und man würde grillen, also packte er noch zwei Sixpacks Bier ein und für die Frauen zwei Flaschen Rotwein, halbtrockener Dornfelder. Und das war doch eigentlich auch, was er sich mehr als alles wünschte: Dass es so weiterging wie bisher: die Fassade aufrechterhalten, das Familienleben, das gesellschaftliche Leben fortführen. Genau das hatte er doch in seinem Kurzzeit-Exil in dem Hotel am Ostkreuz für sich als strategisches Ziel formuliert. Aber wieso war er dann so angeekelt?
Ansgar Dengelow
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